»Und ob.« Warja nickte begeistert. »Und das darf ich keinem erzählen?«
»Wollen Sie mich zugrunderichten?« rief MacLaughlin in Panik. »Sie haben Ihr Wort gegeben!«
»Gut, gut«, beruhigte sie ihn. »Bis zehn werde ich schweigen wie ein Fisch.«
»Da ist die Gabelung. Halt.« Der Ire stieß den Kutscher in den Rücken. »Sie müssen nach rechts, Mademoiselle Warja, und ich nach links. Ich freue mich schon auf den Effekt. Ich sitze beim General, wir trinken Tee, schwatzen über alles mögliche, um halb zehn zücke ich meine Uhr und sage wie beiläufig: >Übrigens, Iwan Stepanowitsch, in einer halben Stunde kommen Leute von Osman Pascha zu Ihnen.< Na?«
MacLaughlin lachte aufgekratzt und schob den Fuß in den Steigbügel.
Gleich darauf konnte Warja ihn nicht mehr sehen, er war hinter dem grauen Schleier des zunehmenden Regens verschwunden.
Das Lager hatte sich in den drei Monaten bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Zelte waren verschwunden, statt dessen standen in gleichmäßigen Reihen Bretterbaracken. Überall gepflasterte Wege, Telegraphenmasten, Hinweisschilder. Es ist gut, wenn ein Ingenieur die Armee befehligt, dachte Warja.
In der Sonderabteilung, die jetzt ganze drei Häuser einnahm, erfuhr Warja, daß Herrn Fandorin ein eigenes Cottage zugewiesen worden sei. Der Diensthabende sprach das neue Wort mit sichtlichem Vergnügen aus und zeigte ihr, wie sie gehen mußte.
Das »Cottage« Nummer 158 war ein Bretterhäuschen mit nur einem Raum und stand ganz am Rande des Stabsstädtchens. Fandorin war zu Hause, öffnete ihr und sah sie in einer Weise an, daß ihr innerlich warm wurde.
»Guten Tag, Erast Petrowitsch, da bin ich wieder.« Sie war entsetzlich aufgeregt.
»Freut mich«, sagte er kurz und ließ sie eintreten. Das Zimmer war schlicht, hatte aber eine
Sprossenwand und ein Arsenal von Gymnastikgeräten. An der Wand hing eine Generalstabskarte.
Warja erklärte: »Meine Sachen habe ich bei den Krankenschwestern gelassen. Petja ist im Dienst, darum bin ich gleich zu Ihnen gekommen.«
»Ich sehe, Sie sind gesund.« Fandorin musterte sie von Kopf bis Fuß und nickte. »Neue F-frisur. Ist das jetzt Mode?«
»Ja. Sehr praktisch. Und was tut sich hier?«
»Nichts. Wir sitzen da und belagern die Türken.« Aus seiner Stimme klang Erbitterung. »Einen Monat, zwei Monate, d-drei. Die Offiziere saufen vor Langeweile, die Intendanten stehlen, die Kasse ist leer. Also alles normal. Krieg auf russisch. Europa atmet erleichtert auf und sieht zu, wie Rußlands Lebenssäfte wegsickern. Wenn Osman Pascha sich noch zwei Wochen hält, ist der Krieg v-verloren.«
Fandorin sprach so deprimiert, daß er Warja leid tat. »Er hält sich nicht«, flüsterte sie. Fandorin fuhr zusammen und sah sie prüfend an. »Wissen Sie etwas? Was? Woher?«
Na, und da erzählte sie. Bei Fandorin konnte sie das tun, er würde nicht loslaufen und es jedem erstbesten weiterplaudern.
»Zu Ganezki? W-warum zu Ganezki?« Der Titularrat runzelte die Stirn.
Er trat zur Karte und murmelte: »Zu G-ganezki ist es weit. Äußerste Flanke. Warum nicht ins Hauptquartier? Halt mal. Halt mal.«
Mit verzerrtem Gesicht riß er den Uniformrock vom Haken und stürmte zur Tür.
»Was ist denn?« schrie Warja und rannte hinterher.
»Eine Provokation«, knurrte Fandorin im Laufen durch die Zähne. »Bei Ganezki ist die Verteidigung am dünnsten. Und dahinter liegt die Chaussee nach Sofia. Das ist keine Kapitulation. Das ist ein Ausbruch. Ganezki soll abgelenkt werden. Damit er nicht schießt.«
»O Gott!« Sie hatte begriffen. »Und da kommen gar keine Parlamentäre? Wo wollen Sie hin, zum Stab?«
Fandorin blieb stehen.
»Zwanzig vor neun. Zum Stab ist es weit. Von einem Vorgesetzten zum anderen. Und die Zeit rinnt. Zu Ganezki schaff ich's nicht. Zu Sobolew! Eine halbe Stunde Galopp. Sobolew fragt nicht erst die Führung. Ja, er riskiert's. Er schlägt als erster zu. Dann kommt es zum Kampf. Wenn er auch Ganezki nicht zu Hilfe kommen kann, so stößt er wenigstens in die Flanke. Trifon, mein Pferd!«
Sieh an, einen Burschen hat er, dachte Warja flüchtig.
Die ganze Nacht grummelte es in der Ferne, und gegen Morgen wurde bekannt, daß der im Kampf verwundete Osman Pascha kapituliert hatte: mit seiner ganzen Armee; zehn Paschas und zweiundvierzigtausend Mann legten die Waffen nieder.
Damit war das Herumsitzen bei Plewna beendet.
Viele waren gefallen, das Korps Ganezki, von der Attacke völlig überrascht, wurde fast völlig aufgerieben. In aller Munde war der Name Sobolew - der Weiße General, der unverwundbare Achilles, der im entscheidenden Moment auf eigenes Risiko in das von den Türken verlassene Plewna vorgestoßen war, hinein in Osman Paschas ungedeckte Flanke.
Fünf Tage später, am 3. Dezember, veranstaltete der Imperator vor seiner Abreise vom Kriegsschauplatz in Paradim eine Abschiedsparade für die Garde. Zu der Zeremonie wurden Würdenträger und die Helden der letzten Schlacht eingeladen. General Sobolew, dessen Stern im Zenit stand, schickte seine Kutsche, um Warja abzuholen. Der große Achilles hatte also seine alte Bekannte nicht vergessen.
Warja war noch nie in so glanzvoller Gesellschaft gewesen. Vom Funkeln der Orden und Epauletten konnte man geradezu erblinden. Offen gestanden hatte sie nicht geahnt, daß es in der russischen Armee so viele Generäle gab. In der ersten Reihe standen in Erwartung der allerhöchsten Personen die rangältesten Heerführer, unter ihnen der unanständig junge Sobolew in seiner obligaten weißen Montur, ohne Mantel, obwohl der Tag, wenn auch sonnig, so doch frostkalt war. Alle Blicke ruhten auf dem Retter des Vaterlands, der, so kam es Warja vor, größer und breitschultriger geworden war und eine bedeutsame Miene zur Schau trug. Die Franzosen haben wohl recht, wenn sie sagen, die beste Hefe sei der Ruhm.
Neben ihr unterhielten sich halblaut zwei rosige Flügeladjutanten. Der eine schielte mit seinen ölig glänzenden schwarzen Augen dauernd zu Warja herüber, und das war ihr angenehm.
»Und der Imperator sagt zu ihm: >Als Zeichen der Achtung vor Ihrer Tapferkeit, Muschir, gebe ich Ihnen Ihren Säbel zurück, den Sie auch bei uns in Rußland tragen können, wo Sie, wie ich hoffe, keinen Grund zur Unzufriedenheit haben werden.< Schade, daß du nicht dabei warst.«
»Dafür hatte ich am neunundzwanzigsten Dienst beim Rat«, antwortete der andere neidisch. »Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie der Imperator zu Miljutin sagte: >Dmitri Alexandrowitsch, ich ersuche Sie als den ältesten der hier anwesenden Ritter des Georgskreuzes, mir das Georgs-Portepee an den Säbel zu heften. Ich glaube, ich habe es verdient.< >Ich ersuche Sie<! Wie findest du das?«
»Ja, das ist schlecht«, pflichtete der Schwarzäugige ihm bei. »Darauf hätten sie auch selber kommen können. Dabei war der Imperator so großzügig! Torleben und Nepokoitschizki haben den Georg zweiter Klasse bekommen, Ganezki den Georg dritter. Und er selber bloß das Portepee.«
»Und was ist mit Sobolew?« fragte Warja lebhaft, obwohl sie mit diesen Herren nicht bekannt war. Macht nichts, es ist Krieg, und dies ist ein besonderer Fall.
»Unser weißer General kriegt bestimmt etwas ganz Besonderes«, antwortete der Schwarzäugige bereitwillig. »Wenn schon sein Stabschef Perepjolkin einen Dienstgrad übersprungen hat! Ist ja auch richtig - ein kleiner Hauptmann kann schließlich nicht solch einen Posten einnehmen. Und vor Sobolew tun sich jetzt solche Horizonte auf, daß einem die Luft knapp wird. Er hat wahrhaftig Glück. Hätte er nicht solch eine Vorliebe fürs Vulgäre und für billige Effekte ...«
»Psst!« zischte der andere. »Sie kommen!«
Auf die Vortreppe des unansehnlichen Hauses, das stolz »Feldpalast« genannt wurde, traten vier Uniformierte: der Imperator, der Oberbefehlshaber, der Thronfolger und der Fürst von Rumänien. Zar Alexander trug einen Uniformwintermantel, und an seinem Säbelgriff sah Warja ein helles orangenes Fleckchen, das mußte wohl das bewußte Portepee sein.