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Von der Diele gelangten sie unmittelbar in das Adjutantenzimmer, wo an Schreibtischen der diensthabende General und zwei Offiziere saßen. Rechts lagen die Privaträume des Imperators, links war das Arbeitszimmer.

»Auf Fragen ist laut, deutlich und erschöpfend zu antworten«, instruierte Misinow sie im Gehen. »Ausführlich, aber ohne abzuschweifen.«

In dem schlichten Kabinett, das mit Möbeln aus karelischer Birke eingerichtet war, befanden sich zwei Männer: Der eine saß in einem Sessel, der andere stand mit dem Rücken zum Fenster. Warja warf natürlich den ersten Blick auf den Sitzenden, aber das war nicht Alexander, sondern ein mageres Männlein mit Goldrandbrille, einem klugen dünnlippigen Gesicht und eisigen Augen, die keinen Blick nach innen ließen - der Staatskanzler Fürst Kortschakow in eigener Person, und er sah genauso aus wie auf den Porträts, nur etwas subtiler. Eine in gewisser Hinsicht legendäre Persönlichkeit. Er war Außenminister gewesen, als Warja noch gar nicht auf der Welt war. Doch die Hauptsache - er hatte zusammen mit Puschkin das Lyzeum von Zarskoje Selo besucht. Über ihn stand geschrieben: »Der Mode Zögling, Freund der großen Welt, der Sitten glänzender Beobachter.« Jedoch mit seinen achtzig ließ »der Mode Zögling« eher an ein anderes Gedicht denken, das im Lehrplan der Gymnasien stand:

Wer von euch muß auf seine alten Tage den Tag der Schule feiern ganz allein?

Der Unglückliche! Unter jungen Leuten wird er dann lästig, überflüssig sein, gedenkt noch unser und der schönen Zeiten,

hält vor die Augen zitternd seine Hand ...

Die Hand des Kanzlers zitterte wirklich. Er holte ein Batisttüchlein aus der Tasche und schneuzte sich, was ihn jedoch nicht hinderte, aufs zudringlichste zuerst Warja zu mustern und dann Fandorin, auf dem er den Blick besonders lange verharren ließ.

Warja, die vom Anblick des Lyzeumsschülers von Zarskoje Selo ganz verzaubert war, hatte die wichtigste anwesende Person ganz vergessen. Verlegen wandte sie sich nach dem Fenster um, überlegte ein wenig und machte einen Knicks - wie im Gymnasium, wenn die Direktorin die Klasse betrat.

Der Imperator bekundete, anders als Kortschakow, mehr Interesse für sie als für Fandorin. Die berühmten Romanow-Augen - durchdringend, magnetisierend und vorstehend - blickten streng und fordernd. Sie dringen einem bis in die Seele, so nennt man das, dachte Warja und war ein wenig erbost. Sklavenpsychologie und Vorurteile. Er imitiert einfach den »Basiliskenblick«, auf den sein Papa so stolz war, im Grabe soll er sich umdrehen. Und sie musterte nun auch demonstrativ den Mann, nach dessen Willen das ganze Reich mit seinen achtzig Millionen Untertanen lebte.

Erste Beobachtung: ein Greis! Geschwollene Lider, Backenbart und aufgezwirbelter Schnauz stark angegraut, die Finger knotig, podagrisch. Stimmt ja auch - nächstes Jahr wird er sechzig. Fast so alt wie die Großmutter.

Zweite Beobachtung: nicht so gütig, wie die Zeitungen schreiben. Eher gleichgültig, müde. Er hat schon alles auf der Welt gesehen, wundert und freut sich über nichts mehr so richtig.

Dritte Beobachtung, die interessanteste: Trotz seines Alters und seiner kaiserlichen Würde ist er dem weiblichen Geschlecht gegenüber nicht gleichgültig. Warum sonst, Euer Majestät, lassen Sie den Blick über meine Brust und Taille streichen? Wahrscheinlich stimmt es, was über ihn und die halb so alte Fürstin Dolgorukowa geredet wird. Und Warja verlor nun endgültig die Scheu vor dem Befreierzaren.

»Euer Majestät, das ist der besagte Titularrat Fandorin. Und seine Assistentin, Fräulein

Suworowa.« So stellte der Chef der Gendarmerie sie vor.

Der Zar sagte nicht »guten Tag«, nickte nicht einmal. In Ruhe beendete er die Besichtigung von Warjas Figur, dann wandte er den Kopf zu Fandorin und sagte halblaut mit Schauspielerstimme: »Ich weiß, Asasel. Sobolew hat ihn soeben auch erwähnt.«

Er setzte sich an den Schreibtisch und nickte Misinow zu.

»Fang an. Michail Alexandrowitsch und ich hören zu.«

Er könnte ja einer Dame einen Stuhl anbieten, auch wenn er Imperator ist, dachte Warja mißbilligend und ließ den Glauben an das monarchistische Prinzip endgültig und unwiederbringlich fahren.

»Wieviel Zeit habe ich?« fragte der General ehrerbietig. »Ich weiß, Majestät, wie sehr Sie heute beschäftigt sind. Und die Helden von Plewna warten.«

»Es ist soviel Zeit, wie gebraucht wird. Das ist ja nicht nur eine strategische, sondern auch eine diplomatische Frage«, dröhnte der Imperator und warf einen freundlichen Blick auf Kortschakow. »Michail Alexandrowitsch ist extra aus Bukarest gekommen, hat die alten Knochen in der Kutsche durchrütteln lassen.«

Der Fürst verzog den Mund zu einem Lächeln ohne das geringste Anzeichen von Heiterkeit, und Warja entsann sich, daß den Kanzler vor Jahresfrist eine persönliche Tragödie getroffen hatte - sein Sohn oder sein Enkel war gestorben.

»Seien Sie mir nicht gram, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte der Kanzler mit trauriger Stimme. »Ich hege Zweifel. Das ist gar zu abenteuerlich, selbst für Herrn Disraeli. Und die Helden können warten. Das Warten auf eine Auszeichnung ist der angenehmste Zeitvertreib. Also reden Sie, wir sind ganz Ohr.«

Misinow reckte schneidig die Schultern und wandte sich überraschend nicht an Fandorin, sondern an Warja: »Frau Suworowa, erzählen Sie ausführlich von Ihren beiden Begegnungen mit dem Korrespondenten der >Daily Post<, James MacLaughlin - während des dritten Sturmangriffs auf Plewna und vor dem Ausbruch Osman Paschas.«

Warum nicht - Warja erzählte.

Der Zar und der Kanzler verstanden zuzuhören, wie sich herausstellte. Kortschakow unterbrach sie nur zweimal.

Das erste Maclass="underline" »Was für ein Graf Surow? Etwa der Sohn von Alexander Platonowitsch?«

Das zweite Maclass="underline" »Also, MacLaughlin und Ganezki waren gut miteinander bekannt, wenn er ihn mit Vor- und Vatersnamen anredete?«

Der Imperator schlug gereizt mit der flachen Hand auf den Tisch, als Warja davon sprach, daß viele Journalisten sich in Plewna Informanten zugelegt hatten.

»Du hast mir noch nicht erklärt, Misinow, wie es kam, daß Osman seine ganze Armee zusammenziehen konnte, ohne daß deine Spione es meldeten.«

Der Chef der Gendarmerie machte aufgeregt Anstalten, sich zu rechtfertigen, aber Alexander winkte ab.

»Später. Sprich weiter, Suworowa.«

»Sprich weiter« - wie finde ich das? Selbst in der ersten Klasse bin ich mit »Sie« angeredet worden. Warja machte eine demonstrative Pause, brachte dann aber doch ihre Erzählung zu Ende.

»Ich glaube, das Bild ist jetzt klar«, sagte der Zar mit einem Blick auf Kortschakow. »Schuwalow soll eine Note vorbereiten.«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete der Kanzler. »Hören wir die Schlußfolgerungen des ehrenwerten Lawrenti Arkadjewitsch.«

Warja bemühte sich vergeblich, zu verstehen, weshalb es zwischen dem Imperator und seinem obersten diplomatischen Berater eine Unstimmigkeit gab. Misinow schaffte Klarheit.

Er entnahm dem Ärmelaufschlag ein paar Papierblätter, räusperte sich und sprach wie ein Streber in der Schule: »Wenn Sie gestatten, komme ich vom Besonderen zum Allgemeinen. Also. Vor allem muß ich mich schuldig bekennen. Während der ganzen Zeit, in der die Armee Plewna belagerte, agierte gegen uns ein listiger, grausamer Feind, den mein Dienst nicht rechtzeitig zu enttarnen vermochte. Durch die Ränke dieses sorgfältig konspirierenden Feindes haben wir viel Zeit und viele Menschen verloren, und am dreißigsten November wären wir beinahe um die Früchte unserer monatelangen Bemühungen gebracht worden.«

Bei diesen Worten bekreuzigte sich der Imperator.

»Gott hat Rußland gerettet.«

»Nach dem dritten Sturmangriff haben wir - genauer, ich, denn es waren meine Überlegungen - einen ernsten Fehler begangen. Wir haben Oberstleutnant Kasansaki für den wichtigsten Agenten der Türken gehalten und damit dem wahren Schuldigen volle Handlungsfreiheit eingeräumt. Heute steht außer Zweifel, daß uns von Anfang an der britische Untertan MacLaughlin geschadet hat. Er ist unstrittig ein Spitzenagent, ein außergewöhnlicher Schauspieler, der sich lange und gründlich auf seine Mission vorbereitet hat.«