»Na, Fandorin, schaffst du das?« fragte der Imperator. »Fährst du nach London?« .
»Natürlich, Euer M-majestät«, sagte Fandorin. »Warum sollte ich nicht?«
Der Monarch sah ihn prüfend an, spürte wohl etwas Unausgesprochenes, doch Fandorin fügte nichts mehr hinzu.
»Also, Misinow, du handelst in zwei Richtungen«, resümierte Alexander. »Du suchst in Konstantinopel und in London. Aber verlier keine Zeit, wir haben nicht mehr viel davon.«
Als sie in das Adjutantenzimmer zurückgingen, fragte Warja den Generaclass="underline" »Und wenn MacLaughlin gar nicht gefunden wird?«
»Meine Liebe, glauben Sie meinem Gespür.« Der General holte tief Luft. »Mit diesem Gentleman werden wir uns ganz sicher noch treffen.«
ZWÖLFTES KAPITEL,
in welchem die Ereignisse eine unerwartete Wendung nehmen
»Petersburger Nachrichten«
vom 8. (20.) Januar 1878
DIE TÜRKEN BITTEN UM FRIEDEN!
»Nach der Kapitulation von Wessel Pascha, der Einnahme von Philippopel und der Übergabe des alten Adrianopel, das gestern den Kosaken des Weißen Generals die Tore öffnete, ist der Krieg endgültig entschieden, und heute früh traf der Zug mit den türkischen Parlamentären bei unseren ruhmreichen Truppen ein. Der Zug wurde in Adrianopel gestoppt, und die Paschas wurden in den Stab des Oberbefehlshabers gebracht, der in dem Ort Hermanli Quartier genommen hat. Als der Führer der türkischen Delegation, der 76jährige Namik Pascha, über die voraussichtlichen Friedensbedingungen unterrichtet wurde, rief er verzweifelt aus: >Votre armee est victorieuse, votre ambition es satisfaite et la Turkie est detruite!< (*(franz.) Ihre Armee hat gesiegt, Ihr Ehrgeiz ist befriedigt, und die Türkei ist zerstört.)«
Nun, fügen wir hinzu, schadet der Türkei gar nichts.«
Sie hatten sich nicht mal richtig verabschiedet. Auf der Vortreppe des »Feldpalastes« fing Sobolew Warja ab, verzauberte sie mit der Aura von Ruhm und Erfolg und entführte sie in seinen Stab zur Siegesfeier. Sie konnte Fandorin grade noch zunicken, und am nächsten Morgen war er nicht mehr im Lager. Der Bursche Trifon sagte: »Sind abgereist. Kommen Sie in einem Monat wieder.«
Aber der Monat ging ins Land, und der Titularrat war noch nicht wieder da. Es war wohl nicht so ganz einfach, MacLaughlin in England aufzuspüren.
Nicht daß Warja sich langweilte - im Gegenteil. Nachdem sie das Plewnaer Lager verlassen hatten, wurde das Leben spannend. Jeden Tag neue Städte, phantastische Berglandschaften, und fast täglich gab es Siegesfeiern. Der Stab des Oberbefehlshabers zog zunächst nach Kasanlik jenseits des Balkangebirges, dann noch weiter südlich nach Hermanli. Hier war kein Winter mehr. Die Bäume prangten im Grün, Schnee war nur noch auf den fernen Berggipfeln zu sehen.
Ohne Fandorin hatte Warja nichts zu tun. Sie gehörte nach wie vor zum Stab, bezog ein Gehalt für Dezember und Januar plus Reisespesen plus Weihnachtsgratifikation. Das Geld sammelte sich an, und sie konnte es nicht ausgeben. Einmal wollte sie in Sofia eine bezaubernde kupferne Öllampe kaufen (fast wie die Lampe des Aladin), aber daraus wurde nichts. D'Hevrais und Gridnew hätten sich fast darum geschlagen, wer Warja das Spielzeug überreichen durfte. Sie mußte verzichten.
Ja, Gridnew. Der achtzehnjährige Fähnrich war Warja von Sobolew zugeteilt worden. Der Weiße General war Tag und Nacht mit kriegerischen Dingen beschäftigt, doch darüber vergaß er Warja nicht. Wenn er sich mal losreißen und in den Stab kommen konnte, schaute er unbedingt bei ihr vorbei, er schickte ihr gigantische Blumensträuße, lud sie zu Festgelagen ein (Neujahr wurde zweimal begangen, nach westlichem und nach russischem Kalender). Aber das war dem hartnäckigen Sobolew nicht genug. Er kommandierte eine seiner Ordonnanzen zu ihrer Verfügung ab - »zur Hilfe auf Reisen und zum Schutz«. Der Fähnrich schmollte zunächst und betrachtete seinen berockten Vorgesetzten mit den Blicken eines Jungwolfs, wurde aber ziemlich schnell zahm und hegte wohl sogar romantische Gefühle. Das war komisch, doch auch schmeichelhaft. Gridnew war häßlich (einen Schönen würde der Stratege Sobolew ihr nicht zugewiesen haben), aber nett und hitzköpfig wie ein junger Hund. Neben ihm fühlte sich die zweiundzwanzigjährige Warja als erwachsene und erfahrene Frau.
Ihre Stellung war ziemlich sonderbar. Im Stab galt sie offenbar als Sobolews Geliebte. Und da alle von dem Weißen General begeistert waren und ihm alles verziehen, verurteilte sie niemand. Im Gegenteil, auf sie fiel ein Abglanz von Sobolews Ruhm. Viele der Offiziere würden sich sogar entrüstet haben, hätten sie gewußt, daß sie es wagte, den ruhmreichen Achilles abzuweisen und einem jämmerlichen Chiffrierer die Treue zu halten.
Mit Petja lief es, um ehrlich zu sein, nicht besonders gut. Nein, eifersüchtig war er nicht, er machte ihr auch keine Szenen. Aber seit seinem Selbstmordversuch war es mit ihm schwierig geworden. Erstens bekam sie ihn fast nie zu sehen - er »tilgte seine Schuld« durch Arbeit, da es in der Chiffrierabteilung unmöglich war, sie mit Blut zu tilgen. Er arbeitete zwei Schichten hintereinander, schlief an Ort und Stelle auf einem Klappbett, ging nicht in den Presseklub, nahm nicht an den kleinen Gelagen teil. Weihnachten mußte sie ohne ihn feiern. Wenn er sie sah, leuchtete sein Gesicht in stiller, zärtlicher Freude. Er sprach mit ihr wie mit der Ikone der Gottesmutter von Wladimir: Sie sei so licht, sie sei seine einzige Hoffnung, und ohne sie sei er gänzlich verloren.
Er tat ihr unsagbar leid. Zugleich aber stellte sie sich immer öfter die unangenehme Frage: Kann man einen Mann aus Mitleid heiraten? Wohl nicht. Aber noch unvorstellbarer war es, ihm zu sagen: »Weißt du, Petja, ich hab's mir anders überlegt und werde nicht deine Frau.« Das wäre so gewesen, als gäbe man einem angeschossenen Tier den Gnadenschuß. Eine rundherum verfahrene Geschichte.
In dem von Ort zu Ort ziehenden Presseklub traf sich noch immer eine zahlreiche Gesellschaft, aber es ging nicht mehr so hoch her wie in den unvergeßlichen Zeiten mit Surow. Die Kartenspiele liefen mit gemäßigten Einsätzen. Die Schachpartien hatten mit dem Verschwinden MacLaughlins aufgehört. Die Journalisten erwähnten den Iren nicht mehr, jedenfalls nicht in Gegenwart der Russen, aber die beiden übrigen britischen Korrespondenten wurden demonstrativ boykottiert und besuchten den Klub nicht mehr.
Es gab natürlich weiterhin Zechgelage und Skandale. Zweimal kam es beinahe zum Blutvergießen, und beide Male ausgerechnet wegen Warja.
Das erstemal, noch in Kasanlik, machte ein zugereister kleiner Adjutant, der über Warjas Status nicht Bescheid wußte, einen unpassenden Scherz, indem er sie »Herzogin Marlborough« nannte - eine deutliche Anspielung auf den »Herzog Marlborough« Sobolew. D'Hevrais verlangte von dem Frechling eine Entschuldigung, der war betrunken und sträubte sich, und sie gingen hinaus, um sich zu schießen. Warja war nicht im Zelt, sonst würde sie diesen albernen Konflikt natürlich unterbunden haben. Aber es ging glimpflich ab: Der Adjutant schoß fehl, und d'Hevrais' Gegenschuß riß ihm die Mütze vom Kopf, worauf der Beleidiger nüchtern wurde und sein Unrecht eingestand.
Das zweitemal war es der Franzose, der gefordert wurde, wieder wegen eines Scherzes, den Warja diesmal recht komisch fand. Sie wurde inzwischen ständig von dem jungen Gridnew begleitet. D'Hevrais bemerkte laut, »Mademoiselle Barbara« gleiche jetzt der Zarin Anna Ioannowna mit dem kleinen Mohren, worauf der Fähnrich, den der finstere Ruf des Korrespondenten nicht ängstigte, sofortige Satisfaktion verlangte. Da Warja zugegen war, kam es nicht zur Schießerei. Sie befahl Gridnew, den Mund zu halten, und d'Hevrais, seine Worte zurückzunehmen. Der Korrespondent bereute sogleich, gab zu, daß der Vergleich unangebracht sei und daß Monsieur le sous-lieutenant eher Herkules gleiche, nachdem der die cerynitische Hirschkuh gefangen hatte. Damit versöhnte man sich.