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Warja gewann manchmal den Eindruck, daß d'Hevrais ihr eindeutige Blicke zuwarf, aber äußerlich benahm sich der Franzose wie ein echter Bayard. Wie die anderen Journalisten war er häufig ein paar Tage an der vordersten Linie, und sie sahen sich jetzt seltener als bei Plewna. Aber einmal kam es zwischen ihnen zu einem Gespräch unter vier Augen, das Warja später Wort für Wort im Gedächtnis rekonstruierte und in ihr Tagebuch schrieb (nach Fandorins Abreise hatte es sie gedrängt, Tagebuch zu führen, wahrscheinlich weil sie nichts zu tun hatte).

Sie saßen in einer Gebirgsschenke, wärmten sich am Feuer, tranken Glühwein, und der Journalist fühlte sich etwas mitgenommen von der Kälte.

»Ach, Mademoiselle Barbara, wenn ich, nicht ich wäre«, sagte d'Hevrais mit bitterem Auflachen, ohne zu wissen, daß er fast wörtlich den von Warja vergötterten Pierre Besuchow aus »Krieg und Frieden« zitierte, »wenn ich in einer anderen Situation wäre, einen anderen Charakter hätte, ein anderes Schicksal ...« Er blickte Warja so an, daß ihr Herz in der Brust zu hüpfen begann wie über ein Springseil. »Ich würde unbedingt in Rivalität zu dem glänzenden Sobolew treten. Wie ist es, hätte ich gegen ihn wenigstens eine Chance?«

»Natürlich, hätten Sie«, antwortete Warja ehrlich und stutzte - das klang ja wie eine Einladung zum

Flirt. »Ich will sagen, daß Sie, Charles, nicht weniger und nicht mehr Chancen hätten als Sobolew. Das heißt, keine. Fast keine.«

Das »fast« hatte sie doch hinzugefügt. O verhaßte, unausrottbare Weiblichkeit!

Da d'Hevrais empfindsam wirkte wie noch nie, stellte Warja ihm eine Frage, die sie schon lange interessierte: »Charles, haben Sie eigentlich Familie?«

Der Journalist schmunzelte. »In Wirklichkeit wollen Sie wissen, ob ich verheiratet bin.«

Warja war verlegen. »Na, nicht nur. Eltern, Geschwister.«

Warum eigentlich heucheln, wies sie sich zurecht, das ist eine ganz normale Frage. Und fügte entschlossen hinzu: »Ob Sie verheiratet sind, möchte ich natürlich auch wissen. Sobolew macht kein Hehl daraus, daß er es ist.«

»Nein, Mademoiselle Barbara. Ich habe keine Frau und keine Braut. Auch noch nie gehabt. Das ist eine andere Lebensweise. Ein paar Affären hatte ich natürlich - das sage ich Ihnen ohne Scheu, denn Sie sind eine moderne Frau ohne Prüderie.« (Warja lächelte geschmeichelt.) »Aber eine Familie ... Nur noch meinen Vater, den ich sehr liebe und nach dem ich mich sehr sehne. Er ist jetzt in Frankreich. Irgendwann erzähle ich Ihnen von ihm. Nach dem Krieg, gut? Das ist eine lange Geschichte.«

Sie war ihm also nicht gleichgültig, aber mit Sobolew zu rivalisieren wünschte er nicht. Wohl aus Stolz.

Aber dieser Umstand hinderte den Franzosen nicht, freundschaftliche Beziehungen zu Sobolew zu unterhalten. Wenn er davonritt, dann zur Abteilung des Weißen Generals, denn der befand sich ständig bei der Avantgarde der angreifenden Armee, und da war für Zeitungsleute was zu holen.

Am Mittag des 8. Januar schickte Sobolew eine erbeutete Kutsche mit einer Kosakeneskorte, um Warja in das soeben eingenommene Adrianopel einzuladen. Auf dem weichen Ledersitz lag ein Armvoll Treibhausrosen. Mitja Gridnew ordnete diese Vegetation zu einem Strauß, zerriß sich an den Dornen seine neuen Handschuhe und war sehr verdrossen. Warja tröstete ihn während der Fahrt und versprach ihm aus Übermut die ihrigen (der Fähnrich hatte kleine Hände wie ein Mädchen). Mitja runzelte die weißlichen Brauen, schniefte beleidigt und schmollte eine halbe Stunde lang, wobei er mit den langen dichten Wimpern klapperte. Diese Wimpern sind wohl das einzige, womit der schwächliche Junge Glück gehabt hat, dachte Warja. Sie sind wie die von Fandorin, nur hell. So wanderten ihre Gedanken ganz natürlich zu dem Mann, der sich irgendwo herumtrieb. Wenn er doch bald zurückkäme! Mit ihm war es ... Ruhiger? Interessanter? Das ließ sich nicht so genau sagen, aber besser war es bestimmt.

Als sie ankamen, dämmerte es bereits. Die Stadt war still geworden, in den Straßen zeigte sich keine Menschenseele, nur die Hufe der berittenen Patrouillen klackerten über das Pflaster, und auf der Chaussee wurde polternd Artillerie herangeführt.

Der Stab war provisorisch im Bahnhofsgebäude untergebracht. Schon von weitem hörte Warja bravouröse Musik - ein Blasorchester spielte »Ruhm dir«. Sämtliche Fenster des neuen, im europäischen Stil erbauten Gebäudes waren erleuchtet, auf dem Bahnhofsvorplatz brannten Lagerfeuer, die Schornsteine der Feldküchen qualmten. Am meisten beeindruckte Warja, daß am Bahnsteig ein ganz gewöhnlicher Personenzug hielt. Die Lokomotive stieß schnaufend Dampf aus, als gäbe es keinen Krieg.

Im Wartesaal wurde natürlich gefeiert. Rund um eine aus verschiedenen Tischen zusammengeschobene Tafel mit einfachen Speisen, aber vielen Flaschen tafelten die Offiziere. Als Warja und Gridnew hereinkamen, schmetterten eben alle mit erhobenen Gläsern ein »Hurra«, dem Tisch zugewandt, an dem der Kommandeur saß. Der berühmte weiße Uniformrock des Generals kontrastierte mit den schwarzen Monturen der Armee und den grauen der Kosaken. Neben Sobolew saßen am Ehrentisch die ranghöchsten Heerführer (Warja kannte lediglich Perepjolkin) und d'Hevrais. Alle hatten fröhliche, gerötete Gesichter, also wurde schon eine Weile gefeiert.

»Warwara Andrejewna!« rief Achilles aufspringend. »Ich bin glücklich, daß Sie es möglich gemacht haben! Ein >Hurra<, meine Herren, auf die einzige Dame!«

Alle standen auf und brüllten so ohrenbetäubend, daß Warja erschrak. Noch nie war sie so lautstark begrüßt worden. Hätte sie die Einladung lieber nicht annehmen sollen? Baronesse Wrejskaja, die Chefin des Feldlazaretts, hatte ihre Schäfchen gewarnt: »Mesdames, halten Sie sich von den Männern fern, wenn die erhitzt sind vom Kampf oder, schlimmer, vom Sieg. In ihnen erwacht dann atavistische Wildheit, jeder Mann, sei er selbst Absolvent des Pagenkorps, verwandelt sich zeitweilig in einen Barbaren. Am besten, die Männer bleiben unter sich. Wenn sie etwas abgekühlt sind, nehmen sie wieder zivilisierte Züge an und werden kontrollierbar.«

Aber außer übertriebener Galanterie und ungewöhnlich lauten Stimmen nahm Warja bei ihren Tischnachbarn nichts besonders Wildes wahr. Man hatte ihr den ehrenvollsten Platz zugewiesen, rechts von Sobolew. Auf der anderen Seite saß d'Hevrais.

Nachdem sie Champagner getrunken und sich etwas beruhigt hatte, fragte sie: »Michel, sagen Sie, was ist das da für ein Zug? Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letztemal eine Lokomotive auf den Gleisen stehen sah und nicht unterhalb der Böschung liegen.«

»Sie wissen es also noch nicht!« rief ein junger Oberst, der außen am Tisch saß. »Der Krieg ist zu Ende! Heute sind aus Konstantinopel Parlamentäre eingetroffen! Mit der Eisenbahn, wie im Frieden!«

»Und wie viele Parlamentäre sind es?« fragte Warja verwundert. »Ein ganzer Zug voll?«

»Nein, Warja«, erklärte Sobolew. »Nur zwei. Aber die Türken waren so verstört über den Fall von Adrianopel, daß sie, um keine Minute zu verlieren, den Stabswaggon einfach an einen Personenzug angekuppelt haben. Ohne Fahrgäste natürlich.«

»Und wo sind die Parlamentäre?«

»Ich habe sie mit Kutschen zum Großfürsten geschickt. Die Gleise sind ab hier gesprengt.«

»Ach, ich bin schon hundert Jahre nicht mit der Eisenbahn gefahren«, seufzte sie träumerisch.

»Sich in die Polster zurücklehnen, ein Buch aufschlagen, heißen Tee trinken. Draußen huschen die Telegraphenmasten vorbei, die Räder rattern ...«

»Ich würde gern eine Fahrt mit Ihnen machen«, sagte Sobolew, »aber leider ist die Strecke begrenzt. Von hier geht es nur nach Konstantinopel.«

»Meine Herren, meine Herren!« rief d'Hevrais. »Das ist eine großartige Idee! La guerre est en fait fini (*(franz.) Der Krieg ist zu Ende.), die Türken schießen nicht mehr! Die Lokomotive hat übrigens eine türkische Flagge! Da könnten wir doch nach San Stefano fahren und wieder zurück! Na, Michel?« Er fiel endgültig ins Französische und geriet immer mehr in Eifer. »Mademoiselle Barbara reist Polsterklasse, ich schreibe eine schicke Reportage, und mit uns fahren ein paar Stabsoffiziere und schauen sich im türkischen Hinterland um. Wirklich, Michel, das ist ein Kinderspiel! Bis San Stefano und zurück! Darauf kommen die nicht! Und wenn - zu schießen trauen sie sich nicht, die Parlamentäre sind ja in Ihrer Hand! Michel, in San Stefano sieht man die Lichter von Konstantinopel ganz aus der Nähe! Dort sind die Stadtrandvillen der türkischen Wesire! Welch eine Chance!«