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»Das stimmt nicht!« unterbrach Sobolew den Titularrat ärgerlich. »Charles hat den ganzen Orient bereist. Er hat auch von anderen Plätzen berichtet, die Sie jetzt nicht erwähnen, weil sie Ihre Hypothese gefährden. 1873 zum Beispiel war er mit mir in Chiwa. Wir waren beide halbtot vor Durst und vor Hitze. Und dort gab es keinen Midhat, Herr Untersuchungsführer!«

»Und von wo war er nach Chiwa, nach Mittelasien gekommen?« fragte Fandorin den General.

»Ich glaube, vom Iran.«

»Ich nehme an, nicht vom Iran, sondern vom Irak. Ende 1873 druckte die Zeitung seine lyrischen Etüden über Hellas. Warum plötzlich über Hellas? Weil der Gönner unseres Anwar Effendi damals nach Saloniki versetzt wurde. Apropos, Warwara Andrejewna, erinnern Sie sich an die schöne Geschichte von den alten Stiefeln?«

Warja nickte und sah Fandorin wie verzaubert an. Der trug geradezu Unglaubliches vor, aber wie sicher, wie schön, wie souverän! Und er stotterte gar nicht mehr.

»Dort ist ein Schiffbruch erwähnt, der sich im November 1873 im Thermäischen Meerbusen zutrug. Übrigens, an der Küste dieses Meerbusens liegt die Stadt Saloniki. Der Artikel hat mir gezeigt, daß der Autor sich 1867 in Sofia aufhielt und 1871 im Zweistromland, denn ebendort hatten arabische Nomaden die britische archäologische Expedition von Sir Andrew Wayard niedergemetzelt. Nach den >Alten Stiefeln< hatte ich schon einen ernsthaften Verdacht gegen Monsieur d'Hevrais, aber mit seinen geschickten Manövern hat er mich noch ein paarmal in die Irre geführt ... Und jetzt«, Fandorin versorgte den Revolver in die Tasche und wandte sich Misinow zu, »lassen Sie uns ausrechnen, welcher Schaden uns durch die Tätigkeit des Herrn Anwar entstanden ist. Monsieur d'Hevrais hat sich dem Korps der Kriegsberichterstatter Ende Juni vorigen Jahres angeschlossen. Es war die Zeit der siegreichen Angriffe unserer Armee. Die Donau war überschritten, die türkische Armee demoralisiert, der Weg nach Sofia und von dort nach Konstantinopel offen. Die Abteilung des Generals Gurko hatte schon den Schipkapaß, den Schlüssel zum Großen Balkangebirge, erobert. Eigentlich hatten wir den Krieg schon gewonnen. Doch wie ging es weiter? Infolge eines verhängnisvollen Chiffrierfehlers besetzte unsere Armee das ganz unnötige Nikopol, derweil zog Osman Pascha ungehindert in Plewna ein und brachte unsern Angriff zum Stehen. Erinnern wir uns an die Umstände der rätselhaften Geschichte. Der Chiffrierer Jablokow machte den schwerwiegenden Fehler, die Geheimdepesche auf dem Tisch liegenzulassen. Warum tat er das?

Weil er erschüttert war von der Nachricht, daß seine Braut, Frau Suworowa, überraschend eingetroffen sei.«

Alle blickten Warja an. Sie kam sich vor wie eine Art Beweisstück.

»Und wer informierte Jablokow über die Ankunft seiner Braut? Der Journalist d'Hevrais. Als der vor Freude durchgedrehte Chiffrierer davonstürmte, genügte es, die Depesche umzuschreiben und >Plewna< durch >Nikopol< zu ersetzen. Unser Armeecode ist, milde gesagt, nicht kompliziert. Von dem bevorstehenden Manöver der russischen Armee wußte d'Hevrais, denn in seiner Gegenwart erzählte ich Ihnen, Michail Dmitrijewisch, von Osman Pascha. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung?«

Sobolew nickte mürrisch.

»Erinnern wir uns ferner an die Geschichte mit dem mysteriösen Ali Bei, den d'Hevrais angeblich interviewte. Dieses >Interview< hat uns zweitausend Gefallene gekostet, und die russische Armee saß jetzt lange Zeit bei Plewna fest. Ein riskanter Trick, denn Anwar zog unweigerlich den Verdacht auf sich, aber er hatte keine Wahl. Die Russen konnten ja auch eine Sperre gegen Osman zurücklassen und die Hauptkräfte weiter nach Süden führen. Doch die Zerschlagung des ersten Sturmangriffs weckte bei unserer Führung übertriebene Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Stadt Plewna, und die Armee entfaltete gegen das bulgarische Städtchen ihre gesamte Macht.«

»Moment mal, Erast Petrowitsch, aber Ali Bei hat doch wirklich existiert!« warf Warja ein.

»Unsere Späher haben ihn in Plewna gesehen!«

»Darauf kommen wir noch zurück. Jetzt wollen wir uns an den zweiten Sturmangriff auf Plewna erinnern, dessen Scheitern wir auf den Verrat des rumänischen Obersts Lucan geschoben haben, der den Türken unsere Disposition preisgab. Sie hatten recht, Lawrenti Arkadjewitsch, das J aus dem Notizbuch Lucans stand für >Journalist<, aber gemeint war nicht MacLaughlin, sondern d'Hevrais.

Er konnte den rumänischen Fant ohne Schwierigkeiten anwerben, denn die Spielschulden und die unmäßigen Ambitionen machten den Oberst zu einer leichten Beute. In Bukarest benutzte d'Hevrais geschickt Madame Suworowa, um sich des Agenten zu entledigen, der seinen Wert verloren hatte und zu einer Gefahr geworden war. Außerdem nehme ich an, daß Anwar das Bedürfnis hatte, sich mit Osman Pascha zu treffen. Die Ausweisung aus Rumänien, die nur zeitweilig war und die von vornherein geplante Rehabilitierung einschloß, bot ihm diese Möglichkeit. Der französische Korrespondent war einen Monat abwesend. Genau in dieser Zeit berichtete unsere Aufklärung von Ali Bei, dem geheimnisvollen Berater des türkischen Befehlshabers. Dieser Ali Bei zeige sich absichtlich auf belebten Plätzen mit seinem auffälligen Vollbart. Sie müssen sich köstlich amüsiert haben über uns, Herr Spion.«

D'Hevrais gab keine Antwort. Er sah den Titularrat aufmerksam und, wie es schien, erwartungsvoll an.

»Das Erscheinen Ali Beis in Plewna war notwendig geworden, um den Journalisten d'Hevrais nach dem unglückseligen Interview von jedem Verdacht zu befreien. Im übrigen zweifle ich nicht, daß Anwar diesen Monat mit großem Nutzen verbrachte: Gewiß hat er mit Osman Pascha gemeinsame Aktionen für die Zukunft besprochen und sich zuverlässige Verbindungen geschaffen. Unsere Spionageabwehr hat schließlich die Korrespondenten nicht daran gehindert, in der belagerten Stadt eigene Informanten zu haben. Wenn Anwar wollte, konnte er sogar für ein paar Tage nach Konstantinopel fahren, denn Plewna war noch nicht von den Verkehrswegen abgeschnitten.

Der dritte Sturmangriff war für Osman Pascha besonders gefährlich, vor allem durch Ihre unerwartete Attacke, Michail Dmitrijewitsch. Doch Anwar hatte Glück, wir nicht. Ein verhängnisvoller Zufall brachte uns in die Klemme - auf dem Weg ins Hauptquartier sprengte Ihr Adjutant Surow an den Korrespondenten vorbei und schrie ihnen zu, daß Sie in Plewna eingedrungen seien. Anwar begriff natürlich die Bedeutung dieser Information und den Grund, warum Surow zum Befehlshaber entsandt war. Er mußte Zeit gewinnen und Osman Pascha die Möglichkeit verschaffen, sich umzugruppieren und Sie mit Ihrer kleinen Abteilung aus Plewna hinauszuwerfen, ehe Verstärkungen kämen. Anwar ging wieder das Risiko ein, improvisierte, dreist, virtuos, talentiert.

Und wie immer gnadenlos.

Als die Journalisten, die nun von der erfolgreichen Attacke auf der Südflanke wußten, um die Wette zu den Telegraphenapparaten eilten, heftete sich Anwar an die Fersen von Surow und Kasansaki. Auf seinem berühmten Pferd Jatagan holte er sie mühelos ein, und an einer menschenleeren Stelle hat er sie beide erschossen. Im Moment des Überfalls ritt er wohl zwischen Surow und Kasansaki, wobei der Rittmeister rechts und der Gendarm links von ihm war. Anwar schoß Surow aus nächster Nähe in die linke Schläfe und jagte im nächsten Moment Kasansaki, der auf den Schuß zu ihm hinblickte, eine Kugel in die Stirn. Das alles dauerte nicht länger als eine Sekunde. Ringsum bewegten sich Truppen, aber die drei Reiter waren in ihrer Senke nicht zu sehen, und die Schüsse dürften während der Kanonade kaum aufgefallen sein. Den Leichnam Surows ließ der Mörder liegen, stieß ihm aber den Dolch des Gendarmen ins Schulterblatt. Das heißt, er hat ihn zuerst erschossen und ihm danach den Dolch in die Schulter gestoßen, nicht umgekehrt, wie wir zunächst dachten. Der Sinn ist klar - der Verdacht sollte auf Kasansaki fallen. Aus der gleichen Erwägung zerrte Anwar den toten Kasansaki ins nächste Gebüsch und inszenierte den Selbstmord.«