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»Und der Brief?« erinnerte Warja. »Von diesem ... Wildkatz?«

»Ein vorzüglicher Schachzug«, gestand Fandorin. »Die türkische Aufklärung dürfte noch aus den Tifliser Zeiten von den widernatürlichen Neigungen Kasansakis gewußt haben. Ich nehme an, daß Anwar Effendi den Oberstleutnant längst im Visier hatte, um ihn möglicherweise in Zukunft erpressen zu können. Doch die Ereignisse entwickelten sich anders, und die nützliche Information wurde genutzt, um uns von der Spur abzubringen. Anwar nahm einfach ein sauberes Blatt Papier und verfaßte in Eile die Karikatur eines homosexuellen Briefes. Dabei trug er zu dick auf, der Brief kam mir schon damals verdächtig vor. Erstens ist schwer zu glauben, daß ein georgischer Fürst ein so scheußliches Russisch schreibt - er muß ja wohl das Gymnasium besucht haben. Und zweitens, Sie werden sich erinnern, daß ich Lawrenti Arkadjewitsch nach dem Kuvert fragte und erfuhr, der Brief habe ohne Kuvert in der Tasche des Toten gesteckt. Es war unbegreiflich, wie das Blatt Papier solche Frische bewahren konnte, wenn Kasansaki es ein ganzes Jahr bei sich getragen hatte!«

»Schön und gut«, warf Misinow ein, »Sie legen mir Ihre Erwägungen nun schon das zweitemal in den letzten vierundzwanzig Stunden dar, aber ich frage wieder: Warum haben Sie geschwiegen? Warum haben Sie mir Ihre Zweifel nicht früher mitgeteilt?«

»Wer eine Version verwirft, muß eine andere haben, und ich hatte keine andere«, antwortete Fandorin. »Der Opponent war zu raffiniert. Es ist mir peinlich, aber eine Zeitlang hielt ich Herrn Perepjolkin für den Hauptverdächtigen.«

»Jeremej?« fragte Sobolew verblüfft und breitete die Arme aus. »Meine Herren, das ist ja Paranoia.«

Perepjolkin klapperte mit den Augen und öffnete nervös den straffen Kragen.

»Ja, es war dumm«, stimmte Fandorin zu. »Aber der Herr Perepjolkin ist uns dauernd vor den Füßen herumgelaufen. Alles war ziemlich verdächtig: seine Gefangenschaft und die wundersame Befreiung, dann der Fehlschuß aus nächster Nähe. Die Baschi-Bosuks schießen gewöhnlich besser. Dann die Geschichte mit dem chiffrierten Telegramm - den Befehl an General Krüdener, Nikopol einzunehmen, überbrachte Herr Perepjolkin. Und wer stiftete den vertrauensseligen Journalisten d'Hevrais an, sich zu den Türken nach Plewna durchzuschlagen? Und der geheimnisvolle Buchstabe J? Der leichtsinnige Surow redete ja Perepjolkin mit >Jerome< an. Das ist die eine Seite. Auf der anderen war die Tarnung Anwar Effendis ideal, das müssen Sie zugeben. Ich konnte noch so viele logische Berechnungen anstellen, wenn ich dann Charles d'Hevrais ansah, zerfielen alle Argumente zu Staub. Sehen Sie sich den Mann an.« Fandorin zeigte auf den Journalisten, alle Augen richteten sich auf d'Hevrais, und er verbeugte sich mit übertriebener Bescheidenheit. »Kann man glauben, daß dieser bezaubernde, geistreiche, durch und durch europäische Herr und der tückische, grausame Chef des türkischen Geheimdienstes ein und dieselbe Person sind?«

»Nie und nimmer!« bemerkte Sobolew. »Ich glaube es auch jetzt noch nicht.«

Fandorin nickte zufrieden.

»Nun die Geschichte mit MacLaughlin und dem nicht stattgefundenen Durchbruch. Hier war alles einfach und ohne Risiko. Dem vertrauensseligen James die >sensationelle< Nachricht unterzujubeln war nicht schwierig. Der Informant, den er uns verheimlichte und auf den er so stolz war, arbeitete gewiß für Sie, Effendi.«

Warja zuckte zusammen, so unangenehm berührte sie diese Anrede. Nein, da stimmte was nicht! Wieso denn »Effendi«?

»Sie haben geschickt mit MacLaughlins Vertrauensseligkeit und seiner Eitelkeit gespielt. Er hat den glänzenden Charles d'Hevrais so beneidet und davon geträumt, ihm den Rang abzulaufen!

Bislang war es ihm nur beim Schachspiel gelungen, und auch da nicht immer, und nun ein so phantastischer Glücksfall! Exclusive information from most reliable sources (*(engl.) Exklusivinformation aus glaubwürdigen Quellen)! Und was für eine Information! Für solche Enthüllungen würde jeder Reporter dem Teufel seine Seele verkaufen. Wenn MacLaughlin nicht unterwegs Warwara Andrejewna getroffen und sich nicht mit ihr verplaudert hätte ... Osman würde das Grenadierkorps überrannt, die Blockade durchbrochen und sich zum Schipka zurückgezogen haben. Dann wäre an der Front eine Pattsituation entstanden.«

»Aber wenn MacLaughlin kein Spion ist, wo ist er dann geblieben?« fragte Warja.

»Erinnern Sie sich an die Erzählung Ganezkis, wie die Baschi-Bosuks ihn und seinen Stab überfielen und der verehrte General kaum entkam? Ich meine, die Diversanten wollten nicht Ganezki, sondern MacLaughlin. Ihn mußten sie beseitigen, und er verschwand. Spurlos. Wahrscheinlich liegt der betrogene und verleumdete Ire jetzt irgendwo am Grunde des Flusses Wid mit einem Stein um den Hals. Oder die Baschi-Bosuks haben ihn ihrer netten Gewohnheit entsprechend in Stücke gehauen.«

Warja erschauerte, als sie daran dachte, wie der rundgesichtige Korrespondent während ihrer letzten Begegnung Kuchen mit Marmelade mampfte. Da hatte er nur noch ein paar Stunden zu leben.

»Hat Ihnen der arme MacLaughlin nicht leid getan?« fragte Fandorin, aber d'Hevrais (oder vielleicht doch Anwar Effendi?) bat ihn mit einer eleganten Geste fortzufahren und legte wieder die Hände auf den Rücken.

Warja entsann sich ihrer psychologischen Ausbildung, wonach auf dem Rücken verschränkte Hände Verschlossenheit signalisieren wie auch Unlust, die Wahrheit zu sagen. War es möglich? Sie trat näher zu dem Journalisten, sah ihm prüfend ins Gesicht und versuchte, in den bekannten Zügen etwas Fremdes, Furchteinflößendes zu entdecken. Das Gesicht war wie immer, allenfalls ein wenig blasser. Er sah Warja nicht an.

»Der Ausbruch scheiterte, doch Sie kamen wieder ungeschoren davon. Ich habe mich sehr beeilt, von Paris an den Kriegsschauplatz zurückzukehren, denn ich wußte schon sicher, wer Sie sind und wie gefährlich Sie sind.«

»Sie hätten ein Telegramm schicken können«, knurrte Misinow.

»Was für eins, Hohe Exzellenz? >Der Journalist d'Hevrais ist Anwar Effendi?< Sie hätten gedacht, ich wäre übergeschnappt. Denken Sie daran, wie ausführlich ich Ihnen die Beweise darlegen mußte, weil Sie die Version von den englischen Umtrieben nicht aufgeben wollten. Und Sie sehen, General Sobolew ist auch nach meinen weitschweifigen Erklärungen noch nicht überzeugt.«

Sobolew schüttelte stur den Kopf.

»Wir hören Sie zu Ende an, Fandorin, und dann lassen wir Charles zu Wort kommen. Eine Untersuchung kann nicht nur aus dem Plädoyer des Staatsanwalts bestehen.«

»Merci, Michel.« D'Hevrais lächelte kurz. »Comme dit l'autre, a friend in need is a friend indeed (*

(franz. u. engl.) etwa: Freunde in der Not gehn tausend auf ein Lot). Eine Frage an den Herrn Staatsanwalt. Wie ist Ihnen überhaupt in den Sinn gekommen, mich zu verdächtigen? Von Anfang an? Stillen Sie meine Neugier.«

»Wie schon«, sagte Fandorin verwundert. »Sie waren sehr unvorsichtig. Man darf doch nicht so mit der Gefahr spielen und den Gegner derartig unterschätzen! Als ich das erstemal Ihre Unterschrift d'Hevrais in der >Revue Parisienne< sah, ist mir sofort eingefallen, daß unser Hauptwidersacher Anwar Effendi aus dem bosnischen Städtchen Hevrais stammt. D'Hevrais, >aus Hevrais<, ist ein gar zu durchsichtiges Pseudonym, das werden Sie zugeben. Gewiß konnte das auch ein Zufall sein, aber es war verdächtig. Wahrscheinlich haben Sie am Beginn Ihrer journalistischen Tätigkeit noch nicht angenommen, daß die Maske des Korrespondenten Ihnen für Aktionen ganz anderer Art zupaß kommen würde. Ich bin sicher, daß Sie aus völlig harmlosen Gründen angefangen haben, für die Pariser Zeitung zu schreiben, nämlich um Ihr überdurchschnittliches literarisches Talent zu nutzen, und zugleich weckten Sie bei den Europäern Interesse an den Problemen des türkischen Imperiums und insbesondere an dem großen Reformer Midhat Pascha. Und Sie haben Ihre Aufgabe nicht schlecht bewältigt. Der Name des weisen Midhat erscheint in Ihren Publikationen mindestens fünfzigmal. Man kann sagen, Sie haben den Pascha zu einer populären und angesehenen Persönlichkeit in ganz Europa und besonders in Frankreich gemacht, wo er sich übrigens derzeit aufhält.«