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Warja zuckte zusammen als sie daran dachte, wie d'Hevrais von seinem heißgeliebten Vater, der in Frankreich lebe, gesprochen hatte. Also hatte Fandorin recht? Entsetzt warf sie einen Blick auf den Korrespondenten. Der wahrte nach außen hin völlige Kaltblütigkeit, doch sein Lächeln kam Warja etwas gequält vor.

»Übrigens glaube ich nicht, daß Sie Midhat Pascha verraten haben«, fuhr der Titularrat fort. »Das ist ein raffiniertes Spiel. Jetzt, nach der Niederlage der Türkei, wird er mit dem Lorbeer des Märtyrers zurückkehren und wieder die Regierung übernehmen. Für Europa ist er die ideale Figur. In Paris wird er einfach auf Händen getragen.« Fandorin berührte mit der Hand die Schläfe, und Warja bemerkte plötzlich, wie blaß und müde er aussah. »Ich habe mich sehr beeilt zurückzukehren, aber die dreihundert Werst von Sofia bis Hermanli haben mich mehr Zeit gekostet als die anderthalb tausend Werst von Paris nach Sofia. Die Straßen im Hinterland spotten jeder Beschreibung. Gottlob sind Misinow und ich noch rechtzeitig angekommen. Als General Strukow mitteilte, Seine Exzellenz seien in Begleitung des Journalisten d'Hevrais nach San Stefano gefahren, begriff ich: Das ist er, der tödliche Zug von Anwar Effendi. Nicht zufällig wurde auch der Telegraphenverkehr unterbrochen.

Ich bekam schreckliche Angst, Michail Dmitrijewitsch, daß dieser Mann mit Ihrer Verwegenheit und Ihrem Ehrgeiz spielen und Sie zum Einmarsch in Konstantinopel überreden könnte.«

»Und warum diese Angst, Herr Staatsanwalt?« fragte Sobolew ironisch. »Russische Truppen wären in die türkische Hauptstadt einmarschiert, na und?«

»Na und?« Misinow griff sich ans Herz. »Sie sind ja verrückt! Das hätte das Ende bedeutet!«

»Das Ende für wen?« Sobolew zuckte die Achseln, aber Warja sah Unruhe in seinen Augen.

»Für unsere Armee, für unsere Eroberungen, für Rußland!« sagte der Chef der Gendarmerie drohend. »Unser Botschafter in England, Graf Schuwalow, hat eine chiffrierte Meldung geschickt. Er hat mit eigenen Augen das geheime Memorandum des Kabinetts von Saint James gesehen. Nach einer vertraulichen Absprache zwischen England und Österreich-Ungarn würde, falls nur ein einziger russischer Soldat in Konstantinopel auftaucht, das Geschwader des Admirals Hornby das Feuer eröffnen, und die österreichisch-ungarische Armee würde die serbische und die russische Grenze überschreiten. So ist das, Michail Dmitrijewitsch. In diesem Falle würden wir eine Niederlage erleiden, um vieles schlimmer als im Krimkrieg. Das Land ist nach Plewna erschöpft, wir haben

keine Flotte im Schwarzen Meer, und die Staatskasse ist leer. Es wäre eine vollständige Katastrophe.«

Sobolew schwieg niedergeschlagen.

»Aber Euer Exzellenz waren weise und zurückhaltend genug, nicht weiter als bis San Stefano zu gehen«, fuhr Fandorin ehrerbietig fort. »Also hätten Misinow und ich uns nicht so zu beeilen brauchen.«

Warja sah das Gesicht des Weißen Generals puterrot anlaufen. Er räusperte sich, nickte mit wichtiger Miene und betrachtete mit Interesse den Marmorfußboden.

Es mußte wohl sein, daß sich genau in diesem Moment der Leutnant Gukmassow durch die Tür hereindrängte. Mit einem feindseligen Blick auf die blauen Monturen bellte er: »Erlaube mir zu melden, Euer Exzellenz!«

Warja tat der arme Achilles leid, und sie wandte sich ab, doch der tumbe Leutnant fuhr mit ebenso schallender Stimme fort: »Punkt sechs Uhr! Laut Befehl Bataillon angetreten und Gulnora gesattelt! Wir warten nur noch auf Euer Exzellenz, dann vorwärts zu den Toren von Zargrad!«

»Sei still, du Tölpel«, knurrte der puterrote Held. »Zum Teufel mit Zargrad!«

Gukmassow wich verwirrt zurück. Kaum hatten sich die Türflügel hinter ihm geschlossen, geschah etwas Unerwartetes.

»Et maintenant, mesdames et messieurs, la parole est a la defense!« (*(franz.) Und jetzt, meine Damen und Herren, hat die Verteidigung das Wort.) erklärte d'Hevrais laut.

Er hielt plötzlich in der rechten Hand einen Revolver, der zweimal Knall und Feuer spie.

Warja sah, daß es den beiden Gendarmen auf der linken Brustseite die Montur zerriß. Die Karabiner fielen scheppernd auf den Fußboden, die Gendarmen sanken fast lautlos nieder.

Die Schüsse hallten in den Ohren nach. Noch ehe Warja schreien oder erschrecken konnte, streckte d'Hevrais die linke Hand aus, umklammerte Warjas Ellbogen, zog sie vor sich, benutzte sie als Schutzschild.

Gogols »Revisor«, die stumme Schlußszene, dachte Warja stumpf, als sie einen hochgewachsenen Gendarm in der Tür erstarren sah. Fandorin und Misinow zielten mit ihren Revolvern. Misinows Gesicht war wütend, das Fandorins unglücklich. Sobolew breitete die Arme aus und verharrte in dieser Haltung. Mitja Gridnew riß den Mund auf und klapperte mit seinen auffälligen Wimpern. Perepjolkin hob die Hand, um den Kragen zu schließen, und vergaß, sie wieder herunterzunehmen.

»Charles, Sie sind verrückt!« schrie Sobolew und trat einen Schritt vor. »Sich hinter einer Dame zu verstecken!«

»Monsieur Fandorin hat bewiesen, daß ich Türke bin«, antwortete d'Hevrais spöttisch. Warja spürte am Hinterkopf seinen heißen Atem. »Und ein Türke macht mit Damen nicht viel Federlesens.«

»Uuuh!« heulte Mitja, senkte den Kopf wie ein Kalb und stürmte vor.

D'Hevrais' Revolver krachte noch einmal, unter Warjas Ellbogen hervor, und der junge Fähnrich stürzte mit einem Wehlaut bäuchlings zu Boden. Wieder standen alle starr.

D'Hevrais zog Warja nach hinten und zur Seite. »Wer sich vom Fleck rührt, wird erschossen«, warnte er halblaut.

Warja hatte das Gefühl, daß sich hinter ihr die Wand öffnete - und plötzlich befand sie sich mit d'Hevrais in einem anderen Raum.

Ach ja, der Tresor!

D'Hevrais knallte die Stahltür zu und schob den Riegel vor.

Sie waren allein.

VIERZEHNTES KAPITEL,

in welchem Rußland geschmäht wird und die Sprache Dantes erklingt

»Regierungsbote« (Sankt Petersburg) vom 9. (21.) Januar 1878

»... bringt einen auf traurige Gedanken. Hier ein paar Daten aus der Rede des Finanzministers, Staatssekretär M. C. Rejtern, die er am letzten Donnerstag auf der Sitzung der Allrussischen Bankvereinigung gehalten hat. 1874 haben wir das erstemal seit vielen Jahren einen Einnahmenüberschuß erzielt, sagte der Minister. Für 1876 errechnete das Staatliche Schatzamt einen disponiblen Überschuß von 40 Millionen Rubel. Aber das knappe Jahr der militärischen Aktionen hat den Staatsschatz 1 Milliarde 20 Millionen Rubel gekostet, und für die weitere Kriegführung sind keine Mittel mehr vorhanden. Da die Ausgaben für zivile Zwecke gekürzt wurden, ist 1877 auf dem Territorium des Reiches keine einzige Werst Eisenbahnstrecke gebaut worden. Die In- und Auslandsverschuldung hat eine nie dagewesene Höhe erreicht und beträgt entsprechend... «

D'Hevrais ließ Warja los, und sie wich voller Entsetzen zur Seite.

Durch die mächtige Tür drang gedämpftes Stimmengewirr.

»Anwar, nennen Sie Ihre Bedingungen!« Das war Fandorin.

»Keine Bedingungen!« (Misinow) »Öffnen Sie sofort, oder ich lasse die Tür mit Dynamit sprengen!«