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»Sie können Ihrem Gendarmeriekorps Befehle geben!« (Sobolew.) »Wenn gesprengt wird, kommt sie doch um!«

»Meine Herren!« schrie auf französisch d'Hevrais, der nicht d'Hevrais war. »Das ist unhöflich! Sie lassen mich nicht mit der Dame sprechen!«

»Charles oder wie Sie heißen!« brüllte Sobolew mit schallendem Generalsbaß. »Wenn Warwara Andrejewna auch nur ein Haar gekrümmt wird, spieße ich Sie auf den Pfahl ohne Untersuchung und Verhandlung!«

»Noch ein Wort, und ich erschieße zuerst sie und dann mich!« rief d'Hevrais mit dramatisch erhobener Stimme und zwinkerte auf einmal Warja zu, als hätte er einen nicht ganz stubenreinen, aber höchst komischen Witz erzählt.

Vor der Tür wurde es still.

»Sehen Sie mich nicht so an, als hätte ich plötzlich Hörner und Hauer, Mademoiselle Barbara«, sagte d'Hevrais mit seiner gewöhnlichen Stimme und rieb sich müde die Augen. »Selbstverständlich werde ich Sie nicht töten, und ich möchte auf keinen Fall Ihr Leben in Gefahr bringen.«

»Ach ja?« fragte sie giftig. »Wozu dann dieses ganze Theater? Warum haben Sie drei gänzlich unschuldige Menschen ermordet? Worauf hoffen Sie?«

Anwar Effendi (d'Hevrais kann vergessen werden) zog seine Uhr hervor.

»Fünf nach sechs. Ich brauche >dieses ganze Theater<, um Zeit zu gewinnen. Übrigens, um den Fähnrich brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Da ich wußte, daß Sie ihn mögen, habe ich ihm nur den Oberschenkel durchlöchert, das ist nicht schlimm. Später kann er sich mit der Kriegsverwundung brüsten. Was die Gendarmen angeht, so ist das ihr Berufsrisiko.«

»Zeit gewinnen? Wozu?« fragte Warja besorgt.

»Schauen Sie, Mademoiselle Barbara, laut Plan wird in einer Stunde und fünfundzwanzig Minuten, also um halb acht, in San Stefano ein anatolisches Schützenregiment einrücken. Das ist eine der besten Truppen der türkischen Garde. Wir sind davon ausgegangen, daß die Abteilung Sobolew zu diesem Zeitpunkt schon den Stadtrand von Stambul erreicht hat, dort ins Feuer der englischen Flotte gerät und zurückweicht. Die türkischen Gardisten hätten dann den ungeordnet fliehenden Russen einen Schlag von hinten versetzt. Ein schöner Plan, und bis zum letzten Moment lief alles wie am Schnürchen.«

»Und weiter?«

»Für den Anfang sollten Sobolews Gedanken auf den verlockenden Personenzug gelenkt werden. Dabei haben Sie mir sehr geholfen, danke. >Ein Buch aufschlagen, heißen Tee trinken< - das war großartig. Das weitere war einfach - der mächtige Ehrgeiz unseres unvergleichlichen Achilles, sein unstillbares Temperament und sein Glaube an seinen Stern hätten die Sache vollendet. Oh, Sobolew wäre nicht gefallen. Ich hätte es nicht zugelassen. Erstens kann ich ihn gut leiden, und zweitens hätte die Gefangennahme des großen Generals eine zweite Etappe des Balkankriegs einleiten können.« Anwar Pascha holte tief Luft. »Schade, daß es nicht geklappt hat. Ihr jugendlicher Greis Fandorin hat Beifall verdient. Wie die östlichen Weisen sagen, es war Karma.«

»Was sagen sie?« fragte Warja verwundert.

»Sehen Sie, Mademoiselle Barbara, Sie sind ein intelligentes, gebildetes Fräulein, aber Sie wissen elementare Dinge nicht«, sagte ihr sonderbarer Gesprächspartner vorwurfsvoll. »>Karma< ist einer der Grundbegriffe der indischen und der buddhistischen Philosophie. Etwas wie das Schicksal im Christentum, aber bedeutend interessanter. Das Elend des Westens besteht darin, daß er sich überheblich zur Weisheit des Ostens verhält. Dabei ist der Osten viel älter, einsichtsvoller und komplizierter. Meine Türkei liegt an der Kreuzung von West und Ost, und das Land könnte eine große Zukunft haben.«

»Lassen Sie das Dozieren«, unterbrach ihn Warja. »Was werden Sie tun?«

»Was ich tun werde?« fragte Anwar verwundert. »Natürlich warten, daß es halb acht wird. Der ursprüngliche Plan ist gescheitert, aber die anatolischen Schützen kommen auf jeden Fall. Der Kampf ist unausweichlich. Wenn unsere Gardisten gewinnen, und sie haben die zahlenmäßige Überlegenheit, die Ausbildung und das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, dann bin ich gerettet. Wenn jedoch Sobolews Leute standhalten ... Lassen wir die Mutmaßungen. Übrigens«, er sah Warja ernst in die Augen, »ich kenne Ihre Entschlossenheit, aber kommen Sie nicht auf die Idee, Ihre Freunde vor dem Angriff zu warnen. Wenn Sie auch nur den Mund öffnen, um zu schreien, bin ich genötigt, Sie zu knebeln. Das werde ich tun, trotz der Achtung und Sympathie, die ich für Sie empfinde.«

Er nahm den Schlips ab, machte ein festes Knäuel daraus und steckte es in die Tasche.

»Eine Dame knebeln?« sagte Warja auflachend. »Als Franzose haben Sie mir besser gefallen.«

»Ich versichere Sie, ein französischer Spion würde an meiner Stelle genauso gehandelt haben, wenn von seinen Entscheidungen so viel abhinge. Ich bin es gewohnt, das eigene Leben nicht zu schonen, und habe es viele Male im Interesse der Sache aufs Spiel gesetzt. Das gibt mir das Recht, auch das Leben anderer nicht zu schonen. Es ist ein Spiel von gleich zu gleich, Mademoiselle Barbara. Ein grausames Spiel, aber das Leben ist überhaupt ein grausames Ding. Meinen Sie, mir hätte es nicht leid getan um den tapferen Surow oder den gutmütigen MacLaughlin? Und wie, aber es gibt wichtigere Werte als die Gefühle.«

»Was sollen das für Werte sein?« rief Warja. »Erklären Sie mir, Herr Intrigant, um was für hoher Ideen willen man einen Menschen töten kann, der einem freundschaftlich gesonnen war.«

»Ein ausgezeichnetes Gesprächsthema.« Anwar rückte einen Stuhl näher. »Nehmen Sie Platz, Mademoiselle Barbara, wir müssen uns die Zeit vertreiben. Und sehen Sie mich nicht so böse an. Ich bin kein Ungeheuer, sondern nur ein Feind Ihres Landes. Ich möchte nicht, daß Sie mich als seelenloses Monster betrachten, als das mich der übernatürlich scharfsinnige Monsieur Fandorin dargestellt hat. Ihn hätte ich rechtzeitig unschädlich machen müssen. Ja, ich bin ein Mörder. Aber wir sind hier alle Mörder, auch Ihr Fandorin und der verstorbene Surow und Misinow. Und Sobolew ist ein Obermörder, der badet geradezu in Blut. Bei unseren Männerspielen sind nur zwei Rollen möglich: Mörder oder Ermordeter. Machen Sie sich keine Illusionen, Mademoiselle, wir leben alle im Dschungel. Versuchen Sie, mich unvoreingenommen zu sehen und zu vergessen, daß Sie Russin sind und ich Türke bin. Ich habe mir im Leben einen sehr schweren Weg ausgesucht. Sie sind mir nicht gleichgültig. Ich bin sogar ein bißchen verliebt in Sie.«

Warja, von dem »ein bißchen« unangenehm berührt, runzelte die Stirn.

»Vielen Dank«, sagte sie.

»Na ja, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt.« Anwar breitete die Arme aus. »Ich kann mir nicht erlauben, mich ernsthaft zu verlieben, das wäre ein unzulässiger und gefährlicher Luxus. Lassen wir das. Ich möchte lieber Ihre Frage beantworten. Einen Freund betrügen oder töten, das ist eine schwere Prüfung, aber manchmal muß man auch diese Schwelle überschreiten. Ich mußte es tun.« Seine Mundwinkel zuckten nervös. »Wenn man sich ganz einem hohen Ziel verschreibt, muß man persönliche Bindungen opfern können. Um Beispiele zu finden, brauchen wir nicht weit zu gehen.

Ich bin überzeugt, daß Sie, ein fortschrittliches Mädchen, revolutionäre Ideen leidenschaftlich bejahen. Ist es nicht so? Bei Ihnen in Rußland haben die Revolutionäre schon angefangen zu schießen. Bald wird ein heimlicher Krieg beginnen, das können Sie einem Profi wie mir glauben. Idealistisch gesonnene Jünglinge und Mädchen werden Paläste, Züge und Kutschen in die Luft sprengen. Darin werden außer dem reaktionären Minister und dem bösen Gouverneur unweigerlich unschuldige Menschen sitzen - Angehörige, Gehilfen, Dienerschaft. Aber um der Idee willen wird das in Kauf genommen. Warten Sie ab. Ihre Idealisten werden sich ins Vertrauen schleichen und spionieren und betrügen und Abtrünnige töten - alles für die Idee.«