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»Und worin besteht Ihre Idee?« fragte Warja scharf.

»Wenn Sie gestatten, erzähle ich es Ihnen.« Anwar stützte den Ellbogen auf die Stellage mit den Geldsäcken. »Ich sehe Rettung nicht in der Revolution, sondern in der Evolution. Diese muß man nur in die richtige Richtung lenken, man muß ihr helfen. Unser neunzehntes Jahrhundert entscheidet das Schicksal der Menschheit, davon bin ich zutiefst überzeugt. Man muß den Kräften der Vernunft und der Toleranz helfen, die Oberhand zu gewinnen, ansonsten werden in nächster Zukunft schwere und überflüssige Erschütterungen die Erde heimsuchen.«

»Und wo wohnen Vernunft und Toleranz? In den Besitzungen Ihres Abd ul Hamid?«

»Natürlich nicht. Ich meine diejenigen Länder, in denen der Mensch nach und nach lernt, sich und andere zu achten, nicht mit dem Knüppel, sondern mit der Überzeugung zu siegen, Schwache zu unterstützen, Andersdenkende zu tolerieren. Ach, welch vielversprechende Prozesse entwickeln sich in Westeuropa und in Nordamerika! Ich bin natürlich weit davon entfernt zu idealisieren. Auch dort gibt es viel Schmutz, viele Verbrechen, viel Dummheit. Aber der Gesamtkurs ist richtig. Die Welt muß diesen Weg gehen, sonst versinkt die Menschheit in Chaos und Tyrannei. Der helle Fleck auf der Karte des Planeten ist noch sehr klein, aber er wird rasch größer. Man muß ihn nur vor dem Druck der Finsternis bewahren. Es läuft eine grandiose Schachpartie, und ich spiele darin für die Weißen.«

»Demnach ist Rußland für die Schwarzen?«

»Ja. Ihr gewaltiges Reich bildet heute die Hauptgefahr für die Zivilisation - mit seinen weiten Räumen, seiner zahlreichen unwissenden Bevölkerung, seiner schwerfälligen und aggressiven Staatsmaschine. Ich beobachte Rußland schon lange, ich habe die Sprache gelernt, bin viel gereist, habe historische Aufsätze gelesen, habe Ihren Staatsmechanismus studiert und Ihre Führer kennengelernt. Sie brauchen nur Sobolew zuzuhören, diesem Herzchen, der ein neuer Napoleon werden will! Die Mission des russischen Volkes sei die Einnahme von Zargrad und die Vereinigung aller Slawen. Wozu? Damit die Romanows Europa wieder ihren Willen diktieren? Eine Horrorvision! Sie hören das nicht gern, Mademoiselle Barbara, aber Rußland birgt in sich eine schreckliche Bedrohung für die Zivilisation. In Rußland brodeln wilde, zerstörerische Kräfte, die früher oder später nach außen drängen werden, und das wird der Welt nicht gut bekommen. Es ist ein instabiles, absurdes Land, das alles Schlechte vom Westen wie vom Osten in sich aufgesogen hat. Rußland muß in die Schranken gewiesen, muß gebändigt werden. Das ist zu seinem Nutzen und ermöglicht es Europa, sich weiterhin in der notwendigen Richtung zu entwickeln. Wissen Sie, Mademoiselle Barbara«, Anwars Stimme zitterte plötzlich, »ich liebe meine unglückliche Türkei sehr. Sie ist ein Land der versäumten großen Möglichkeiten. Aber ich bin mit vollem Bewußtsein bereit, den osmanischen Staat zu opfern, wenn ich damit die russische Bedrohung von der Menschheit abwenden kann. Da wir schon vom Schach sprechen, wissen Sie, was ein Gambit ist? Nein? Das italienische gambetto, dare il gambetto, bedeutet >ein Bein stellen<. Gambit, das ist ein Eröffnungsspiel, bei dem man dem Gegner eine Figur opfert, um strategische Überlegenheit zu gewinnen. Ich selbst habe Rußland ganz am Anfang dieser Schachpartie eine verlockende Figur angeboten - die fette, appetitliche, schwache Türkei. Das Osmanische Reich wird sterben, aber Zar Alexander wird das Spiel nicht gewinnen. Im übrigen hat sich der Krieg so günstig gestaltet, daß vielleicht auch für die Türkei noch nicht alles verloren ist. Sie behält ja Midhat Pascha. Das ist ein vorzüglicher Mann, Mademoiselle Barbara, ich habe ihn absichtlich eine Zeitlang aus dem Spiel genommen, doch jetzt muß ich ihn wieder hereinnehmen. Wenn ich die Möglichkeit habe. Midhat Pascha kehrt unbefleckt nach Stambul zurück und nimmt die Macht in seine Hände. Vielleicht rückt die Türkei dann aus der Dunkelheit ins Licht.«

Vor der Tür die Stimme Misinows: »Herr Anwar, warum alles in die Länge ziehen? Das ist doch kleinmütig! Kommen Sie raus, ich verspreche Ihnen den Status des Kriegsgefangenen.«

»Und den Galgen wegen Kasansaki und Surow?« flüsterte Anwar.

Warja holte tief Luft, aber der Türke war auf der Hut - er holte den Knebel aus der Tasche und schüttelte ausdrucksvoll den Kopf.

»Ich muß nachdenken, Monsieur General!« rief er. »Um halb acht werde ich Ihnen antworten!«

Danach schwieg er lange. Er lief im Tresorraum auf und ab, sah mehrmals nach der Uhr.

»Wenn ich nur raus könnte!« murmelte der seltsame Mann endlich und schlug mit der Faust auf das eiserne Regal. »Ohne mich verschlingt Abd ul Hamid den edlen Midhat!«

Er blickte Warja mit seinen klaren hellblauen Augen schuldbewußt an und erklärte: »Verzeihen Sie, Mademoiselle Barbara, ich bin nervös. Mein Leben ist in dieser Partie nicht ganz ohne Bedeutung. Mein Leben ist auch eine Figur, aber ich schätze es höher als das Osmanische Reich. Sagen wir so: Das Reich ist ein Läufer, und ich bin die Dame. Doch um des Sieges willen kann man auch die Dame opfern. Jedenfalls habe ich die Partie nicht verloren, ein Remis ist mir sicher!« Er lachte aufgeregt. »Es ist mir gelungen, Ihre Armee bei Plewna bedeutend länger festzuhalten, als ich gehofft hatte. Sie haben Kraft und Zeit verschwendet. England hat sich auf die Konfrontation vorbereitet, Österreich die Feigheit abgeworfen. Selbst wenn es keine zweite Etappe des Krieges gibt, hat Rußland das Nachsehen. Zwanzig Jahre hat es gebraucht, sich vom Krimkrieg zu erholen, und zwanzig Jahre lang wird es seine Wunden aus dem gegenwärtigen Krieg lecken. Und das jetzt, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wo jedes Jahr so viel bedeutet. In zwanzig Jahren wird Europa gewaltig vorankommen. Rußland ist künftig die Rolle einer zweitrangigen Macht zugewiesen. Es wird zerfressen vom Geschwür der Korruption und des Nihilismus und wird den Fortschritt nicht mehr bedrohen.«

Da riß Warja die Geduld.

»Wer sind Sie denn, daß Sie sich ein Urteil anmaßen, wer der Zivilisation das Heil bringt und wer den Untergang? Den Staatsmechanismus hat er studiert, unsere Führer kennengelernt! Und den Grafen Tolstoi, Fjodor Dostojewski haben Sie nicht kennengelernt? Haben Sie die russische Literatur gelesen? Was, keine Zeit gehabt? Zweimal zwei ist immer vier und dreimal drei neun, ja? Zwei parallele Geraden schneiden sich niemals, wie? Bei Ihrem Euklid vielleicht nicht, aber bei unserm Lobatschewski schneiden sie sich!«

»Ich verstehe Ihre Metapher nicht«, sagte Anwar achselzuckend. »Und die russische Literatur habe ich natürlich gelesen. Es ist eine gute Literatur, nicht schlechter als die englische oder französische. Aber Literatur ist ein Spielzeug und kann in einem normalen Land keine wichtige Bedeutung haben. Ich selbst bin ja auch eine Art Literat. Man soll sich einer Aufgabe widmen und nicht sentimentale Märchen schreiben. Die Schweiz zum Beispiel hat keine große Literatur, doch das Leben dort ist unvergleichlich würdiger als bei Ihnen in Rußland. Ich habe in der Schweiz meine ganze Kindheit und Jugend verbracht, und Sie können mir glauben ...«

Er sprach nicht zu Ende - aus der Ferne war das Knattern von Schüssen zu hören.

»Es geht los! Vorzeitig!«

Anwar legte das Ohr an die Tür, seine Augen glänzten fiebrig.

»Verdammt! Und der Raum hat kein einziges Fenster!«

Warja versuchte vergeblich, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Das Krachen der Schüsse kam näher. Sie hörte, wie Sobolew irgendwelche Befehle gab, konnte aber nichts verstehen. Jemand rief »Allah!«, dann dröhnte eine Salve.

Anwar drehte die Trommel seines Revolvers und murmelte: »Ich könnte einen Ausfall machen, aber ich habe nur noch drei Patronen. Ich hasse Untätigkeit!«

Er fuhr zusammen - Schüsse knallten schon im Gebäude.

»Wenn Unsere siegen, schicke ich Sie nach Adrianopel«, sagte Anwar schnell. »Jetzt geht der Krieg wohl zu Ende. Eine zweite Etappe wird es nicht geben. Schade. Nicht alles kommt wie geplant. Vielleicht sehen wir beide uns wieder. Jetzt hassen Sie mich natürlich, aber wenn Zeit vergangen ist, werden Sie sehen, daß ich recht hatte.«