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»Revue Parisienne« (Paris) vom 15.(3.) Juli 1877

»Das Wappen des Russischen Imperiums, der doppelköpfige Adler, spiegelt aufs trefflichste das Verwaltungssystem in diesem Land, wo jedwede auch nur im Ansatz wichtige Angelegenheit nicht einer, sondern mindestens zwei Instanzen übertragen wird, die sich gegenseitig behindern und für nichts verantwortlich sind. Das Gleiche geschieht in der kämpfenden Armee. Oberbefehlshaber ist formell Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, welcher sich derzeit in dem Dorf Zarewizy aufhält, aber in unmittelbarer Nähe seines Stabs, in dem Städtchen Bela, ist das Hauptquartier von Imperator Alexander II, und dort befinden sich der Kanzler, der Kriegsminister, der Chef der Gendarmerie und weitere hohe Beamte. Erwägt man dann noch, daß die verbündete rumänische Armee einen eigenen Oberbefehlshaber hat, den Fürsten Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, so fällt einem nicht der doppelköpfige König der Gefiederten ein, sondern die witzige russische Fabel von Schwan, Krebs und Hecht, die unüberlegt vor dieselbe Kutsche gespannt wurden ...«

»Also, wie soll ich Sie anreden, >Madame< oder >Mademoiselle<?« fragte der schwarzhaarige Gendarmerieoberstleutnant mit unangenehm verzogenem Mund. »Wir sind hier nicht auf einem Ball, sondern beim Armeestab, und ich mache Ihnen keine Komplimente, sondern führe ein Verhör durch, also lassen Sie gefälligst Ihre Faxen.«

Der Oberstleutnant hieß Iwan Charitonowitsch Kasansaki, er zeigte keinerlei Verständnis für Warjas Lage, und es sah schon so aus, als würde sie zwangsweise nach Rußland zurückgeschickt.

Am Vorabend waren sie erst sehr spät in Zarewizy eingetroffen. Fandorin begab sich sofort in den Stab, und Warja, die vor Müdigkeit fast umfiel, kümmerte sich gleichwohl noch um das Notwendigste. Krankenschwestern von der Sanitätsabteilung der Baronesse Wrejskaja gaben ihr Kleidung, machten Wasser warm, und Warja brachte sich erst einmal in Ordnung, dann ließ sie sich auf eine Pritsche fallen - zum Glück gab es fast keine Verwundeten im Lazarett. Die Begegnung mit Petja wurde auf den nächsten Tag verschoben, denn für die bevorstehende Aussprache mußte sie

hellwach sein.

Aber am Morgen konnte sie nicht ausschlafen. Es erschienen zwei Gendarmen mit Helm und Karabiner und geleiteten »das angebliche Fräulein Suworowa« geradewegs in die Sonderabteilung der Westgruppe, und sie durfte sich nicht mal kämmen.

Und nun versuchte sie schon seit Stunden, dem glattrasierten Peiniger mit den dicken Augenbrauen, der die blaue Montur trug, zu erklären, welcher Art ihre Beziehung zu dem Chiffrierer Pjotr Jablokow war. »Mein Gott, dann lassen Sie ihn doch herkommen, er wird es Ihnen bestätigen«, sagte sie zum wiederholten Male, worauf der Oberstleutnant nur antwortete: »Alles zu seiner Zeit.«

Besonders interessierten den Gendarmen die Einzelheiten ihrer Begegnung mit »der Person, die sich als Titularrat Fandorin« ausgab. Er notierte den Widiner Jussuf Pascha, den Kaffee, den Fandorin trinken mußte, die im Nardy-Spiel gewonnene Freilassung. Besonders lebhaft wurde der Oberstleutnant, als er erfuhr, daß der Freiwillige mit den Baschi-Bosuks türkisch gesprochen hatte, und er wollte unbedingt wissen, wie das geklungen hatte, gebrochen oder fließend. Allein für die Klärung dieses Blödsinns ging wohl eine halbe Stunde drauf.

Als Warja schon kurz vor einem tränenlosen hysterischen Anfall stand, wurde die Tür der Lehmhütte, in der die Sonderabteilung untergebracht war, jählings aufgerissen, und herein kam, nein stürmte ein hochmütiger General mit gebieterischen Augen und üppigem Schnauzbart.

»Generaladjutant Misinow«, rief er schallend von, der Tür und maß den Oberstleutnant mit strengem Blick. »Kasansaki?«

Der Gendarm, wie vom Donner gerührt, nahm stramme Haltung an und bewegte die Lippen. Warja starrte mit großen Augen auf den obersten Satrapen und Henker der Freiheit - diesen Ruf hatte er bei der fortschrittlichen Jugend, der Chef der Dritten Abteilung und Chef des Gendarmeriekorps Lawrenti Arkadjewitsch Misinow.

»Jawohl, Hohe Exzellenz«, krächzte Warjas Beleidiger. »Oberstleutnant Kasansaki vom Gendarmeriekorps. Habe früher in der Kischinjower Verwaltung gedient und bin jetzt zum Chef der Sonderabteilung beim Stab der Westgruppe ernannt. Verhöre soeben eine Festgenommene.«

»Wer ist sie?« Der General zog eine Braue hoch und warf einen mißbilligenden Blick auf Warja.

»Warwara Suworowa. Sie behauptet, aus privatem Anlaß hergekommen zu sein, um ihren Bräutigam zu treffen, den Chiffrierer Jablokow von der Operationsabteilung.«

»Suworowa?« fragte General Misinow interessiert. »Sind wir womöglich verwandt? Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski.«

»Ich hoffe nicht«, sagte Warja frostig.

Der Satrap lachte verstehend auf und beachtete die Frau nicht mehr.

»Und Sie, Kasansaki, machen Sie mir nicht dauernd blauen Dunst vor. Wo ist Fandorin? In der Meldung heißt es, er sei bei Ihnen.«

»Jawohl, er steht unter Arrest«, meldete der Oberstleutnant schneidig und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Ich habe Grund zu der Annahme, daß er unser langerwarteter Gast Anwar Effendi ist. Alles paßt zusammen, Hohe Exzellenz. Osman Pascha und Plewna, das ist eindeutig eine Desinformation. Raffiniert hat er sich eingeschlichen ... «

»Dummkopfl« bellte Misinow so drohend, daß der Oberstleutnant den Kopf einzog. »Schaffen Sie ihn sofort her! Auf der Stelle!«

Kasansaki stürzte davon. Warja drückte sich gegen die Stuhllehne, aber der aufgebrachte General hätte sie vergessen. Er schnaufte laut und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, bis der Oberstleutnant mit Fandorin zurückkehrte.

Der Freiwillige sah erschöpft aus, unter den Augen lagen dunkle Ringe, er hatte wohl die letzte Nacht nicht geschlafen.

»G-guten Tag, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte er lasch und machte Warja eine leichte Verbeugung.

»Mein Gott, Fandorin, sind Sie das wirklich?« rief der Satrap. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen. Zehn Jahre älter sehen Sie aus! Nehmen Sie Platz, mein Lieber, ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«

Er nötigte Fandorin auf einen Stuhl und setzte sich selber so hin, daß Warja nun hinter ihm saß. Kasansaki war an der Tür in der Position »stillgestanden« erstarrt.

»In was für einer Verfassung sind Sie jetzt?« fragte General Misinow, »Ich möchte Ihnen meine tiefste ... «

»Lassen Sie nur, Hohe Exzellenz«, unterbrach ihn Fandorin höflich, doch entschlossen. »Ich bin ganz in O-ordnung. Sagen Sie mir lieber, hat Ihnen dieser H-herr« (er nickte geringschätzig zum Oberstleutnant hin) »das von Plewna ausgerichtet? Jetzt ist ja jede Stunde kostbar.«

»Ja. Ich habe hier eine Anordnung des Oberbefehlshabers, doch ich wollte mich vorher überzeugen, daß Sie es wirklich sind. Also hören Sie.« Er nahm ein Blatt aus der Tasche, setzte das Monokel ins Auge und las: »An den Chef der Westgruppe Generalleutnant Baron Krüdener. Ich befehle, Plewna zu nehmen und sich dort mit mindestens einer Division zu verschanzen. Nikolai.«

Fandorin nickte.

»Oberstleutnant, sofort chiffrieren und an Krüdener telegraphieren«, befahl Misinow.

Kasansaki nahm das Blatt ehrerbietig entgegen und eilte sporenklirrend zur Ausführung.

»Sie können also wieder Ihren Dienst antreten?« fragte der General.

Fandorin verzog das Gesicht.

»Lawrenti Arkadjewitsch, ich habe doch wohl meine P-flicht getan, indem ich das türkische Flankenmanöver meldete. Aber Krieg führen gegen die arme Türkei, die auch ohne unsere glanzvollen Bemühungen auseinanderfallen würde - entbinden Sie mich.«

»Das tue ich nicht, mein Herr, nein!« rief Misinow ärgerlich. »Wenn Patriotismus für Sie ein leeres Wort ist, erlaube ich mir, Sie zu erinnern, daß Sie, Herr Titularrat, nicht im Ruhestand sind, sondern nur in einem unbefristeten Urlaub, und obwohl Sie beim diplomatischen Dienst geführt werden, gehören Sie nach wie vor zu meiner Dritten Abteilung!«