Warja stöhnte. Fandorin, den sie für einen anständigen Menschen gehalten hatte, ein Polizeiagent? Und gerierte sich als ein Petschorin (*Gestalt aus Lermontows »Held unserer Zeit«. D.Ü.)! Interessante Blässe, Schmachteblick, edles Grauhaar. Da sollte man noch Vertrauen zu den Menschen haben!
»Euer Hohe E-exzellenz«, sagte Fandorin leise; er schien nicht zu ahnen, daß er für Warja ein für allemal erledigt war. »Ich diene nicht Ihnen, sondern Rußland. Und an einem Krieg, der für Rußland nutzlos, ja, verderblich ist, wünsche ich mich nicht zu beteiligen.«
»Über den Krieg entscheiden nicht Sie und nicht ich. Darüber entscheidet der Imperator«, sagte Misinow barsch.
Eine ungute Pause entstand. Als der Chef der Gendarmerie dann wieder das Wort nahm, klang seine Stimme gänzlich anders.
»Erast Petrowitsch, mein Bester«, begann er gefühlvoll, »Hunderttausende Russen riskieren ihr Leben, das Land stöhnt unter der Last des Krieges. Ich habe ein komisches Vorgefühl. Alles läuft gar zu glatt. Ich fürchte, das nimmt kein gutes Ende.«
Als er keine Antwort bekam, rieb er sich müde die Augen und gestand: »Ich hab's schwer,
Fandorin, sehr schwer. Überall Unordnung, der reinste Saustall. Es fehlt an Mitarbeitern, an tüchtigen zumal. Ich will Ihnen ja keinen Routineposten aufhalsen. Es gibt da eine hübsche Aufgabe, nicht leicht, genau das Richtige für Sie.«
Fandorin neigte fragend den Kopf, und der General sagte einschmeichelnd: »Sie erinnern sich an Anwar Effendi? Den Sekretär des Sultans Abd ul Hamid? Na, der im Falle >Asasel< eine Rolle gespielt hat?«
Fandorin zuckte kaum merklich zusammen, sagte aber nichts.
Misinow brummte: »Und für den hat dieser Idiot Kasansaki Sie gehalten, nicht zu fassen. Wir haben Informationen, wonach dieser interessante Türke höchstpersönlich eine Geheimoperation gegen unsere Truppen leitet. Er ist ein verwegener Mann mit einem Hang zum Abenteurer. Gut möglich, daß er in eigener Person bei uns auftaucht, es ist ihm zuzutrauen. Na, interessiert?«
»Ich höre Ihnen zu, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte Fandorin mit einem Seitenblick auf Warja.
»Na großartig«, freute sich Misinow und schrie: »Nowgorodzew! Die Mappe!«
Auf leisen Sohlen kam ein älterer Major mit den Achselschnüren des Adjutanten herein, reichte dem General eine rote Kalikomappe und entfernte sich sogleich wieder. Warja sah in der Türöffnung die schweißige Visage des Oberstleutnants Kasansaki und schnitt ihm eine spöttisch-verächtliche Grimasse - schadet dir gar nichts, du Sadist, steh dir ruhig die Beine in den Bauch vor der Tür.
»Also, hier ist, was wir über Anwar haben«, sagte der General und raschelte mit den Papieren. »Möchten Sie Notizen machen?«
»Nein, ich merk's mir«, sagte Fandorin.
»Über die frühe Periode nur sparsamste Angaben. Geboren vor cirka fünfunddreißig Jahren. Nach etlichen Informationen in dem muselmanischen bosnischen Städtchen Hevrais. Eltern unbekannt. Erzogen irgendwo in Europa, in einer der berühmten Lehranstalten der Lady Aster, an die Sie sich natürlich von dem Fall >Asasel< erinnern.«
Schon zum zweitenmal hörte Warja diesen seltsamen Namen, und zum zweitenmal reagierte Fandorin seltsam - er ruckte mit dem Kinn, als sei ihm der Kragen plötzlich zu eng geworden.
»Ins Blickfeld gelangte Anwar Effendi vor zehn Jahren, als in Europa erstmalig über den großen türkischen Reformer Midhat Pascha gesprochen wurde. Unser Anwar, damals noch kein Effendi, diente ihm als Sekretär. Und nun hören Sie sich den Werdegang Midhats an.« Misinow nahm ein einzelnes Blatt heraus und räusperte sich. »Dazumal war er Generalgouverneur der Donau-Provinz. Unter seiner Protektion eröffnete Anwar in dieser Region eine Diligence-Verbindung, baute Eisenbahnstrecken und schuf auch ein Netz von wohltätigen Lehranstalten für Waisenkinder muselmanischen wie auch christlichen Glaubens.«
»W-wirklich?« fragte Fandorin interessiert.
»Ja. Eine löbliche Initiative, nicht wahr? Überhaupt entfalteten Midhat Pascha und Anwar hier eine Tätigkeit, die allen Ernstes die Gefahr heraufbeschwor, Bulgarien aus der russischen Einflußsphäre zu verlieren. Unser Botschafter in Konstantinopel, Nikolai Pawlowitsch Gnatjew, mußte all seinen Einfluß auf den Sultan Abd ul Asis geltend machen, um zu erreichen, daß der übereifrige Gouverneur abberufen wurde. Midhat wurde Vorsitzender des Staatsrats und erließ ein Gesetz über die allgemeine Volksbildung, ein hervorragendes Gesetz, wie wir es übrigens in Rußland bis heute nicht haben. Können Sie sich denken, wer das Gesetz ausarbeitete? Richtig - Anwar Effendi. Das alles wäre ja sehr rührend, aber unser Gegenspieler leistete nicht nur Aufklärungsarbeit, sondern beteiligte sich schon damals intensiv an den Hofintrigen, zumal sein Gönner mehr als genug Feinde hatte. Man schickte ihm Mörder, schüttete ihm Gift in den Kaffee, schob ihm sogar eine an Lepra erkrankte Beischläferin unter, und Anwar fiel die Aufgabe zu, den großen Mann gegen all diese netten Streiche abzuschirmen. Die russische Partei bei Hofe erstarkte, und 1869 wurde der Pascha als Generalgouverneur in die schlimmste Einöde gesandt, ins wilde und bettelarme Mesopotamien. Als Midhat versuchte, dort Reformen durchzuführen, flammte in Bagdad ein Aufstand auf. Wissen Sie, was er tat? Er rief die Ältesten und die Geistlichkeit der Stadt zusammen und hielt ihnen eine kurze Rede folgenden Inhalts. Ich lese sie Ihnen wörtlich vor, denn ich bin aufrichtig begeistert von der Energie und dem Sticlass="underline" >Verehrte Mullas und Älteste, wenn die Unruhen nicht binnen zwei Stunden aufhören, lasse ich Sie alle aufhängen und die ruhmreiche Stadt Bagdad von allen vier Seiten anzünden, und dann mag der Großherr, Allah beschütze ihn, auch mich für die Untat aufhängen lassen.< Natürlich herrschte nach zwei Stunden Frieden.« Misinow brummte und schüttelte den Kopf. »Jetzt konnte er seine Reformen in Angriff nehmen. In weniger als drei Jahren gelang es Anwar Effendi unter Midhats Regentschaft, den Telegraph einzuführen, in Bagdad eine Pferdebahn zu eröffnen, Dampfer auf den Euphrat zu schicken, die erste irakische Zeitung zu gründen und Schüler für seine Handelsschule zu werben. Wie finden Sie das? Ich rede schon gar nicht von einer Lappalie wie der Schaffung der >Osmano-Osmanischen Schiffahrtsgesellschaft<, deren Schiffe durch den Suezkanal bis London fahren. Später glückte es Anwar mit einer sehr pfiffigen Intrige, den Großwesir Mahmud Nedim zu stürzen, der so sehr von dem russischen Gesandten abhängig war, daß die Türken ihn >Nedimow< nannten. Midhat stand der Regierung des Sultans vor, hielt sich aber nur zweieinhalb Monate auf dem hohen Posten - unser Gnatjew hatte ihn wieder ausgetrickst. Midhats größter und vom Standpunkt der anderen Paschas unverzeihlichster Fehler war seine Unbestechlichkeit. Er nahm den Kampf gegen das Schmiergeldunwesen auf und sprach vor europäischen Diplomaten den Satz, der ihm zum Verhängnisn wurde: >Es ist an der Zeit, Europa zu zeigen, daß nicht alle Türken jämmerliche Prostituierte sind.< Dafür wurde er aus Stambul gefeuert und mußte als Gouverneur nach Saloniki gehen. Dieses griechische Städtchen blühte alsbald auf, und der Hof des Sultans sank wieder in Schlaf, Wohlleben und Durchstecherei.«
»Sie sind ja richtig v-verliebt in diesen Mann«, unterbrach Fandorin den General.
»In Midhat? Gewiß.« Misinow zuckte die Achseln. »Und ich wäre froh, ihn als Oberhaupt der russischen Regierung zu sehen. Aber er ist ein Türke. Noch dazu ein Türke, der sich an England orientiert. Unsere Bestrebungen sind gegensätzlicher Art, darum ist Midhat unser Feind. Unser gefährlichster Feind. Europa ist uns nicht gewogen und fürchtet uns, dafür trägt es Midhat auf Händen, besonders seit er der Türkei die Verfassung geschenkt hat. Und jetzt, Erast Petrowitsch, schicken Sie sich in Geduld. Ich lese Ihnen einen ausführlichen Brief vor, den mir Nikolai Gnatjew schon voriges Jahr geschickt hat. Er wird Ihnen eine klare Vorstellung von dem Gegner vermitteln, mit dem wir es zu tun haben werden.«