»Ich glaube, dass wir grüne Felder sehen, auf denen all diese aufgeblasenen Aristokraten als Sklaven schuften und alle Sklaven aufgeblasene Aristokraten sind; und ich habe den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als im Schilf Enten zu jagen und Bier zu trinken, um meine glorreichen Jagderfolge zu feiern.«
Ich ging auf seinen Scherz nicht ein.
»Wenn wir etwas sehen sollen«, sagte ich stattdessen, »warum stecken die Einbalsamierer uns dann Zwiebeln in die Augenhöhlen? Zwiebeln! Die Tränen-Knollen …«
»Vielleicht ist es ja so, dass wir das Totenreich nur mit unserem geistigen Auge sehen …«, meinte er.
»Jetzt sprichst du wie ein weiser Mann«, erwiderte ich.
»Und trotzdem faulenzen all die, die in reiche Familie hineingeboren wurden, den ganzen Tag herum und genießen ihren Luxus und ihre Liebesaffären, während ich immer noch wie ein Hund schufte und nichts verdiene …«
»Nun ja, das ist ein noch wesentlich größeres Mysterium.«
Wir bahnten uns unseren Weg durch das Labyrinth aus alten, engen Gassen, die im Zickzack an baufälligen Häusern vorüberführten, die man ohne jeden Plan errichtet hatte. Am Tage lärmte es in diesem Viertel und herrschte überall Gedränge, aber in der Nacht war es aufgrund der Sperrstunde leer und stilclass="underline" Die teuren Geschäfte lagen geschützt hinter Fensterläden, ihre Luxusgüter waren gesichert wie die Grabbeigaben einer Gruft; die Wagen und Stände der Obstallee hatte man für die Nacht weggeräumt; und die Werkstätten für Holz-, Leder- und Glaswaren waren verlassen und lagen im Dunkeln; selbst die Vögel in den im Mondlicht hängenden Käfigen gaben keinen einzigen Laut von sich. Denn die Angst machte in diesen finsteren Zeiten einen jeden fügsam. Die katastrophale Regierung Echnatons, als man den Königshof und die Tempel von Theben in die neue Wüsten-Tempelstadt Achet-Aton umgesiedelt hatte, war vor zehn Jahren kollabiert. Die mächtigen Amun-Priester, die unter Echnaton vertrieben und enteignet worden waren, hatten ihre Befugnisse, ihren gewaltigen Landbesitz und ihre unermesslichen irdischen Reichtümer zurückbekommen. Stabilität hatte das aber nicht gebracht; denn die Ernten waren kläglich, die Pest tötete zigtausend Menschen, und die meisten glaubten, diese Katastrophen seien eine Bestrafung für die schweren Fehler, die während Echnatons Herrschaft begangen worden waren. Und dann, als solle damit der Beweis für diese Theorie angetreten werden, starb innerhalb der königlichen Familie einer nach dem anderen: Echnaton selbst, fünf seiner sechs Töchter und schließlich auch Nofretete, seine so außerordentlich schöne Königin, über deren Ende insgeheim sehr viel spekuliert wurde.
Tutanchamun erbte die Krone der Beiden Länder im Alter von neun Jahren; und er wurde sofort mit Anchesenamun verheiratet, der letzten noch lebenden Tochter von Echnaton und Nofretete. Das war eine zwar befremdliche, aber notwendige Verbindung, denn sie waren beide die Kinder Echnatons, hatten nur verschiedene Mütter. Und wen hätte man sonst krönen sollen, da sie die letzten Überlebenden ihrer großen Dynastie waren? Sie waren aber halt noch kleine Kinder; und es war Eje, der Regent, der »Gottesvater«, wie sein offizieller Titel lautete, der seither unerbittlich regierte und eine Angstherrschaft geschaffen hatte, indem er Beamte einsetzte, die nach meinem Empfinden nur einem gegenüber loyal waren: der Angst. Unwirkliche Männer. Für eine Welt, in der es so viel Sonne gab, lebten wir an einem düsteren Ort und in finsteren Zeiten.
Wir erreichten ein Haus, das sich nicht groß von den anderen in diesem Viertel unterschied: eine hohe, im Zerfall befindliche Mauer aus Lehmziegeln, die es von der engen Gasse abtrennte, ein Hauseingang mit einer alten, windschiefen Holztür, die halb offen stand, und dahinter das einfache Haus aus Lehmziegeln, bei dem man mehrere Etagen gefährlich aufeinandergestellt hatte – weil es einfach nicht genug Platz gibt in der übervölkerten Stadt Theben. Ich band Thot im Hof an einem Pfahl fest, und wir traten ins Haus.
Das Alter des Opfers war schwer zu schätzen. Sein mandelförmiges, beinahe schon elegantes, fein geschnittenes Gesicht war sowohl jung als auch alt, und sein Körper war der eines Kindes, zugleich aber auch der eines alten Weibes. Er konnte zwölf oder zwanzig Jahre zählen. Eigentlich hätten seine armen Knochen von den jahrelangen Fehlstellungen seines verkrüppelten Körpers verdreht und verbogen sein müssen. Ich sah aber im schwachen Licht der Öllampe, die in der Wandnische stand, dass sie an mehreren Stellen gebrochen und wie die Einzelteile eines Mosaiks neu zusammengesetzt worden waren. Vorsichtig hob ich seinen Arm. Er war leicht wie eine zerbrochene Rohrfeder; aufgrund der gebrochenen Knochen war er schartig und schlaff zugleich. Der Junge wirkte wie eine seltsame Puppe, die man aus feinem Leinen und zerbrochenen Stöckchen angefertigt hatte.
Man hatte ihn wie zur Bestattung aufgebahrt. Seine krummen Beine lagen lang ausgestreckt, seine dünnen, ungleich kräftigeren Arme waren angewinkelt, die krallenartigen Hände aufgebrochen wie die Klauen eines Falken und übereinandergelegt. Auf seinen Augen lagen goldene Blätter, und außen herum hatte man ihm in Schwarz und Grün das Auge des Re gemalt. Vorsichtig nahm ich die Blätter herunter. Man hatte beide Augen entfernt. Einen Moment lang starrte ich in das Mysterium der leeren Augenhöhlen, dann legte ich die Goldblätter wieder darüber. Sein Gesicht war das Einzige, das man nicht erfolgreich umgestaltet hatte, vielleicht deshalb nicht, weil es selbst mit Hammer, Zangen und all den anderen Instrumenten, die benutzt worden waren, um seinen verkrüppelten Körper neu auszurichten, nicht möglich gewesen war, das gewohnheitsmäßige schiefe Grinsen auszubügeln, das auf den Zügen lag – man bedenke, wie viele Muskeln vonnöten sind, um zu lächeln. Dieses Grinsen war, wie ein kleiner Sieg über so viel Gewalt, geblieben. Was es aber selbstverständlich nicht war. Seine blasse Haut, die davon zeugte, dass man ihm selten erlaubt hatte, in die Sonne zu gehen, war so kalt wie Fleisch. Seine Finger waren lang und schmal, die sorgsam manikürten Nägel unversehrt. Seine verkrümmten Hände schienen ihm im Leben nur wenig genützt und auch nicht gegen sein groteskes Schicksal angekämpft zu haben. Seltsamerweise war an seinen Handgelenken und Fußknöcheln nichts zu sehen, das darauf hingedeutet hätte, dass er gefesselt worden war.
Was man ihm angetan hatte, war grausam und brutal gewesen und hatte sowohl beträchtlicher körperlicher Kraft als auch anatomischer Kenntnisse und Fähigkeiten bedurft. Doch er musste nicht zwangsläufig an diesen Verletzungen gestorben sein. Man hatte mich mal zu einem Opfer der Bandenkriege gerufen, die in den Vorstädten der Armen toben. Den jungen Mann hatte man in eine Schilfmatte eingerollt, nur der Kopf hing heraus, damit er seine Bestrafung selbst besser mitverfolgen konnte, die darin bestand, dass man mit schweren Keulen auf ihn einschlug. Ich erinnere mich noch heute an den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht, als man die Matte, aus der sein Blut troff, langsam aufrollte und sein Körper auseinanderfiel. Erst dann starb er.
Die meisten Mordopfer erzählen die Geschichte ihres gewaltsamen Endes über ihre Körperhaltung und die Male und Wunden, die ihnen zugefügt wurden. Manchmal redet auch noch der Ausdruck auf ihren Gesichtern mit der maskenhaften Leere des Todes: Panik, Schock, Entsetzen – das alles ist in den Zügen zu sehen, und Spuren davon bleiben noch eine ganze Weile erhalten, nachdem der kleine Vogel der Seele, ba, entfleucht ist. Dieser junge Mann hier wirkte jedoch ungewöhnlich ruhig. Wie war das möglich? Mir kam ein Gedanke: Vielleicht hatte der Mörder ihn mit irgendeiner Droge ruhiggestellt. Was bedeutete, dass er Kenntnisse über Medikamente und Zugang zu Arzneibüchern haben musste. Cannabisblätter vielleicht; oder dem Wein beigemengte Lotosblume? Doch hätte beides nur eine schwache einschläfernde Wirkung gehabt. Der Saft der Mandragorawurzel ist ein stärkeres Beruhigungsmittel.