Nur deutete dieses Ausmaß von Gewalt und die Komplexität, mit der sie verübt worden war, auf noch Stärkeres hin. Vielleicht der Saft des Schlafmohns, an den man herankommen konnte, wenn man wusste, wo man danach fragen musste. In Vasen, die aussahen wie auf dem Kopf stehende Mohnsamenhülsen, wurde der Stoff über streng geheime Routen ins Land importiert, und der größte Teil der Ernte stammte bekanntermaßen aus den Ländern unserer nördlichen Feinde, der Hethiter, mit denen wir uns einen langen Zermürbungskrieg um die Kontrolle über die strategisch lebensnotwendigen Länder zwischen unseren Reichen lieferten. Schlafmohn war ein verbotener, aber äußerst beliebter Luxusartikel.
Das Zimmer des Opfers, das sich im Erdgeschoss befand und von dem man direkt nach draußen in den Hof gelangte, war so unpersönlich wie der Lagerraum eines Geschäfts. Außer ein paar Papyrusrollen und einer Rassel gab es nur wenige Stücke, die an das kurze, private Leben des Jungen erinnerten. Man hatte einen einfachen Holzstuhl in den Schatten gestellt, von dem er durch den Türrahmen das Leben beobachten konnte, das draußen auf der Straße an ihm vorüberzog – und durch denselben Türrahmen hatte sein Mörder mit Leichtigkeit im Dunkel der Nacht hereinkommen können. Seine Krücken lehnten an der Wand neben dem Bett. Der Lehmfußboden war sauber gefegt, die Sandalen des Mörders hatten keine Spuren hinterlassen.
Dem Haus und seinem Standort nach zu urteilen, gehörten seine Eltern zur Klasse der niederen Verwaltungsangestellten, und wahrscheinlich hatten sie ihren Sohn vor den kritischen und abergläubischen Augen der Welt versteckt. Einige Leute glauben nämlich, dass derartige Gebrechen davon künden würden, dass die Götter einen Menschen verlassen und verschmäht haben, während andere meinen, sie seien ein Zeichen göttlicher Gnade. Kheti würde die Diener befragen und Aussagen der Familienmitglieder einholen. Ich wusste aber schon jetzt, dass dabei nichts herauskommen würde; dieser Mörder gestattete sich nämlich nicht den kleinsten Fehler. Er hatte zu viel Fantasie und zu viel Fingerspitzengefühl.
Schweigend saß ich auf der Liege und begutachtete fasziniert das seltsame Puzzle, das vor mir ausgelegt war, bestürzt über die bewusste Absonderlichkeit der Tat. Was der Mörder dem Jungen angetan hatte, musste eine andere Bedeutung haben: Es war wie eine Absicht oder ein Kommentar, den man auf den Körper geschrieben hatte. War die Grausamkeit des Verbrechens ein Ausdruck von Macht? Oder war sie ein Ausdruck der Verachtung für die Unvollkommenheit des Fleisches und des Blutes, die ein tiefes Bedürfnis nach größerer Vollkommenheit signalisierte? Oder, noch interessanter, hatte die eventuelle Ähnlichkeit des Jungen mit unserem König und dessen Gebrechen – ich musste mir dabei vor Augen halten, dass das alles nur Gerüchte waren – eine spezielle Bedeutung? Warum hatte man sein Gesicht so bemalt, als sei er Osiris, der Gott der Unterwelt? Warum hatte man seine Augen entfernt? Und warum erinnerte mich das Ganze an ein altes Ächtungsritual, bei dem unsere Vorfahren ihre Feinde verfluchten, indem sie zunächst Tontafeln zertrümmerten, auf denen deren Namen und Titel standen, und sie dann hinrichteten und enthauptet und bäuchlings verscharrten? Das Ganze hier hatte Raffinesse, Intelligenz und einen Sinn. Es war fast so deutlich wie eine Botschaft. Nur war sie in einer Sprache verfasst, die ich noch nicht entschlüsseln konnte.
Und dann sah ich etwas. An seinem Hals, versteckt unter seinem Gewand, befand sich ein Streifen außerordentlich feinen Leinens, auf das man mit herrlicher Tinte Hieroglyphen gemalt hatte. Ich hielt die Lampe hoch. Es war eine Schutzformel, speziell für Verstorbene und ihre nächtliche Reise im Sonnenschiff durch das Jenseits. Sie endete mit den Worten: »Dein Leib, oh Re, wird mit diesem Spruch ewig leben.«
Ich saß ganz still da und begutachtete dieses seltene Stück, bis Kheti am Eingang zur Kammer des Jungen diskret zu hüsteln begann. Ich würde es meinem alten Freund Nacht zeigen, einem Edelmann, in puncto Reichtum ebenso wie in puncto Charakter, und einem Experten für Weisheit, Zaubersprüche und viele, viele andere Dinge.
»Die Familie ist jetzt so weit, dass sie mit dir reden können«, sagte er.
Sie warteten in einem angrenzenden Raum, der von ein paar Kerzen erhellt wurde. Die Mutter schaukelte leise wehklagend in ihrer Trauer vor sich hin, ihr Mann saß verständnislos schweigend neben ihr. Ich trat zu ihnen und sprach ihnen mein nutzloses Beileid aus. Dann nickte ich dem Vater diskret zu, und er begleitete mich nach draußen auf den kleinen Hof. Wir setzten uns auf die Bank.
»Mein Name ist Rahotep. Ich bin der Leiter der Kriminalabteilung der thebanischen Medjai. Mein Gehilfe Kheti wird dich noch genauer befragen müssen. Ich fürchte, das ist erforderlich, selbst in einem Augenblick wie diesem. Sag mir jetzt aber bitte, ob ihr letzte Nacht irgendetwas Ungewöhnliches gehört oder bemerkt habt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nichts. Wir haben keinen Nachtwächter, denn hier in der Gegend kennt uns jeder, und wir haben keine Reichtümer im Haus. Wir sind ganz normale Leute. Wir schlafen oben, weil es dort kühler ist, aber unser Sohn hat hier unten, im Erdgeschoss, geschlafen. Das war sehr viel einfacher für ihn, wenn er irgendwo hinwollte. Und er beobachtete so gern, was auf der Straße vorging – das war das Einzige, was er je vom städtischen Leben gesehen hat. Wenn er uns in der Nacht brauchte, hat er gerufen.«
Er stockte, als lausche er in die Stille, in der Hoffnung, die Stimme seines toten Sohnes rufen zu hören. »Was für ein Mensch tut einem liebenswerten Jungen mit einer derart schlichten Seele so etwas an?«
Er starrte mich an und wartete verzweifelt auf eine Antwort. Ich stellte fest, das ich keine parat hatte, die in diesem Moment hätte helfen können.
Die heftige Trauer in seinen Augen verwandelte sich plötzlich in pure Rachsucht der Verzweiflung.
»Wenn Ihr in schnappt«, sagte er, »gebt ihn mir. Ich werde ihn töten, langsam und unbarmherzig. Dann wird ihm die wahre Bedeutung von Schmerz bewusst werden.«
Aber das konnte ich ihm nicht versprechen. Er drehte den Kopf zur Seite, und sein Körper begann zu zittern. Ich ließ ihn mit seiner Trauer allein.
Wir standen auf der Straße. Das Indigoblau des Horizonts im Osten verwandelte sich rasch in Türkisgrün. Kheti riss den Mund auf und gähnte.
»Du siehst aus wie eine Nekropolenkatze«, sagte ich.
»Ich bin hungrig wie eine Katze«, meinte er, nachdem er sich ausgegähnt hatte.
»Bevor wir an Frühstück denken, lass uns über diesen jungen Mann nachdenken.«
Er nickte. »Brutal …«
»Aber auf seltsame Weise zielgerichtet.«
Wieder nickte er und beobachtete dabei, wie sich die Dunkelheit zu seinen Füßen rasend schnell in Helligkeit verwandelte, als könne ihn das auf eine Spur bringen.
»Dieser Tage ist alles durcheinander und verquer. Aber wenn sie jetzt anfangen, hilflose, lahme Jungen zu verstümmeln und neu zusammenzusetzen …« Fassungslos schüttelte er den Kopf.
»Und das an diesem Tag, dem höchsten Tag des Festes …«, sagte ich leise.
Wir ließen diesen Gedanken beide einen Moment auf uns wirken.
»Nimm die Aussagen der Familie und der Diener zu Protokoll. Untersuche das Zimmer nach allem, was wir in der Dunkelheit vielleicht übersehen haben … und mach das, solange alles noch frisch ist. Finde heraus, ob einem der Nachbarn jemand aufgefallen ist, der dort herumgelungert hat. Der Mörder hat sich diesen Jungen mit Bedacht ausgesucht. Irgendjemand könnte ihn gesehen haben. Und anschließend mach dich auf den Weg zum Fest, und amüsier dich. Wir treffen uns dann später im Hauptquartier.«
Er nickte und ging zurück ins Haus.