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«Tyll», der neue Roman des Erfolgsautors Daniel Kehlmann - er veröffentlichte u.a. «Die Vermessung der Welt», «Ruhm», «F» und «Du hättest gehen sollen» -, ist die Neuerfindung einer legendären Figur: ein großer Roman über die Macht der Kunst und die Verwüstungen des Krieges, über eine aus den Fugen geratene Welt.

Tyll Ulenspiegel - Vagant, Schausteller und Provokateur - wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Müllerssohn in einem kleinen Dorf geboren. Sein Vater, ein Magier und Welterforscher, gerät schon bald mit der Kirche in Konflikt. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das von den Religionskriegen verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: dem jungen Gelehrten und Schriftsteller Martin von Wolkenstein, der für sein Leben gern den Krieg kennenlernen möchte, dem melancholischen Henker Tilman und Pirmin, dem Jongleur, dem sprechenden Esel Origenes, dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, deren Ungeschick den Krieg einst ausgelöst hat, dem Arzt Paul Fleming, der den absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben, und nicht zuletzt dem fanatischen Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat. Ihre Schicksale verbinden sich zu einem Zeitgewebe, zum Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Und um wen sollte es sich entfalten, wenn nicht um Tyll, jenen rätselhaften Gaukler, der eines Tages beschlossen hat, niemals zu sterben.

Über Daniel Kehlmann

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT Literaturpreis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sein Roman «Die Vermessung der Welt» ist eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher der Gegenwart.

Schuhe

Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen. Wir lebten in Furcht und Hoffnung und versuchten, Gottes Zorn nicht auf unsere fest von Mauern umschlossene Stadt zu ziehen, mit ihren hundertfünf Häusern und der Kirche und dem Friedhof, wo unsere Vorfahren auf den Tag der Auferstehung warteten.

Wir beteten viel, um den Krieg fernzuhalten. Zum Allmächtigen beteten wir und zur gütigen Jungfrau, wir beteten zur Herrin des Waldes und zu den kleinen Leuten der Mitternacht, zum heiligen Gerwin, zu Petrus dem Torwächter, zum Evangelisten Johannes, und sicherheitshalber beteten wir auch zur Alten Mela, die in den rauen Nächten, wenn die Dämonen frei wandeln dürfen, vor ihrem Gefolge her durch die Himmel streift. Wir beteten zu den Gehörnten der alten Tage und zum Bischof Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler geteilt hatte, als es diesen fror, sodass sie danach beide froren und beide gottgefällig waren, denn was nützt ein halber Mantel im Winter, und natürlich beteten wir zum heiligen Moritz, der mit einer ganzen Legion den Tod gewählt hatte, um nicht seinen Glauben an den einen und gerechten Gott zu verraten.

Zweimal im Jahr kam der Steuereintreiber und schien immer überrascht, dass wir noch da waren. Hin und wieder kamen Händler, aber da wir nicht viel kauften, zogen sie schnell ihrer

Wege, und so war es uns recht. Wir brauchten nichts aus der weiten Welt und dachten nicht an sie, bis eines Morgens ein Planwagen, gezogen von einem Esel, über unsere Hauptstraße rollte. Es war ein Samstag und seit kurzem auch Frühling, der Bach schwoll vom Schmelzwasser an, und auf den Feldern, die gerade nicht brachlagen, hatten wir die Saat ausgebracht.

Auf dem Wagen war ein Zelt aus rotem Segeltuch aufgeschlagen. Davor kauerte eine alte Frau. Ihr Körper sah wie ein Beutel aus, ihr Gesicht wie aus Leder, ihr Augenpaar wie winzige schwarze Knöpfe. Eine jüngere Frau mit Sommersprossen und dunklem Haar stand hinter ihr. Auf dem Kutschbock aber saß ein Mann, den wir erkannten, obgleich er noch nie hier gewesen war, und als die Ersten sich erinnerten und seinen Namen riefen, erinnerten sich auch andere, und so rief es bald von überall und mit vielen Stimmen: «Tyll ist hier!», «Tyll ist gekommen!», «Schaut, der Tyll ist da!» Es konnte kein anderer sein.

Sogar zu uns kamen Flugschriften. Sie kamen durch den Wald, der Wind trug sie mit sich, Händler brachten sie - draußen in der Welt wurden mehr davon gedruckt, als irgendwer zählen konnte. Sie handelten vom Schiff der Narren und von der großen Pfaffentorheit und vom bösen Papst in Rom und vom teuflischen Martinus Luther zu Wittenberg und dem Zauberer Horridus und dem Doktor Faust und dem Helden Gawain von der runden Tafel und eben von ihm, Tyll Ulenspiegel, der jetzt selbst zu uns gekommen war. Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte

Kapuze und den Mantel aus Kalbsfell, wir kannten sein hageres Gesicht, die kleinen Augen, die hohlen Wangen und die Hasenzähne. Seine Hose war aus gutem Stoff, die Schuhe aus feinem Leder, seine Hände aber waren Diebes- oder Schreiberhände, die nie gearbeitet hatten; die rechte hielt die Zügel, die linke die Peitsche. Seine Augen blitzten, er grüßte hierhin und dorthin.

«Und wie heißt du?», fragte er ein Mädchen.

Die Kleine schwieg, denn sie begriff nicht, wie es sein konnte, dass einer, der berühmt war, mit ihr sprach.

«Na sag es!»

Als sie stockend herausgebracht hatte, dass sie Martha hieß, lächelte er nur, als hätte er das immer schon gewusst.

Dann fragte er mit einer Aufmerksamkeit, als wäre es ihm wichtig: «Und wie alt bist du?»

Sie räusperte sich und sagte es ihm. In den zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie nicht Augen gesehen wie seine. Augen wie diese mochte es in den freien Städten des Reichs geben und an den Höfen der Großen, aber noch nie war einer, der solche Augen hatte, zu uns gekommen. Martha hatte nicht gewusst, dass solche Kraft, solche Behändigkeit der Seele aus einem Menschengesicht sprechen konnten. Dereinst würde sie ihrem Mann und noch viel später ihren ungläubigen Enkeln, die den Ulenspiegel für eine Figur alter Sagen hielten, erzählen, dass sie ihn selbst gesehen hatte.

Schon war der Wagen vorbeigerollt, schon war sein Blick anderswohin geglitten, zu anderen am Straßenrand. «Tyll ist

gekommen!», rief es wieder an der Straße und: «Tyll ist hier!» aus den Fenstern und: «Der Tyll ist da!» vom Kirchplatz, auf den nun sein Wagen rollte. Er ließ die Peitsche knallen und stand auf.

Blitzschnell wurde der Wagen zur Bühne. Die zwei Frauen falteten das Zelt, die junge band ihre Haare zu einem Knoten, setzte ein Krönchen auf, warf sich ein Stück Purpurstoff um, die alte stellte sich vor den Wagen, erhob die Stimme und begann einen Leiergesang. Ihr Dialekt klang nach dem Süden, nach den großen Städten Bayerns, und war nicht leicht zu verstehen, aber wir bekamen doch mit, dass es um eine Frau und einen Mann ging, die einander liebten und nicht zueinanderkonnten, weil ein Gewässer sie trennte. Tyll Ulenspiegel nahm ein blaues Tuch, kniete sich hin, schleuderte es, eine Seite festhaltend, von sich, sodass es sich knatternd entrollte; er zog es zurück und schleuderte es wieder weg, zog es zurück, schleuderte es, und wie er auf der einen und die Frau auf der anderen Seite kniete und das Blau zwischen ihnen wogte, schien da wirklich Wasser zu sein, und die Wellen gingen derart wild auf und nieder, als könnte kein Schiff sie befahren.

Als die Frau sich aufrichtete und mit schreckensstarrem Gesicht auf die Wogen sah, bemerkten wir mit einem Mal, wie schön sie war. Während sie da stand und die Arme zum Himmel streckte, gehörte sie plötzlich nicht mehr hierher, und keiner von uns vermochte den Blick von ihr zu wenden. Nur aus dem Augenwinkel sahen wir ihren Geliebten springen und

tanzen und fuhrwerken und sein Schwert schwingen und mit Drachen und Feinden und Hexen und bösen Königen kämpfen, auf dem schweren Weg zu ihr.

Das Stück dauerte bis in den Nachmittag. Aber obgleich wir wussten, dass den Kühen die Euter schmerzten, wurde keiner von uns ungeduldig. Die Alte trug Stunde um Stunde vor. Es schien unmöglich, dass jemand sich so viele Verse merken konnte, und einigen von uns kam der Verdacht, dass sie sie beim Singen erfand. Tyll Ulenspiegels Körper war unterdessen nie in Ruhe, seine Sohlen schienen kaum den Boden zu berühren; wann immer unsere Blicke ihn fanden, war er schon wieder anderswo auf der kleinen Bühne. Am Ende gab es ein Missverständnis: Die schöne Frau hatte sich Gift verschafft, um sich tot zu stellen und nicht den bösen Vormund heiraten zu müssen, aber die alles erklärende Botschaft an ihren Geliebten war auf dem Weg zu ihm verlorengegangen, und als er, der wahre Bräutigam, der Freund ihrer Seele, zu guter Letzt bei ihrem reglosen Leib ankam, traf ihn der Schreck wie ein Blitzschlag. Eine lange Zeit stand er wie erfroren. Die Alte verstummte. Wir hörten den Wind und die nach uns muhenden Kühe. Keiner atmete.