Выбрать главу

Agneta und der Knecht haben den kurzen Weg genommen, sie war zu schwach für den Umweg, und so sind sie der Lichtung der Kalten zu nahe gekommen. Nun liegt Agneta auf dem Boden und hat keine Kraft mehr und kaum noch Stimme zum Schreien, und Heiner sitzt neben ihr, in seinem Schoß das neugeborene Wesen.

Der Knecht überlegt, ob er fortlaufen soll. Was hält ihn schon? Diese Frau wird sterben, und wenn er in der Nähe gewesen ist, wird man sagen, er sei schuld. So ist es immer. Wenn etwas passiert und ein Knecht ist in der Nähe, dann ist der Knecht schuld.

Er könnte auf Nimmerwiedersehen verschwinden, auf dem Reutterhof hält ihn nichts, das Essen ist nicht reichlich, und der Bauer ist nicht gut zu ihm, er schlägt ihn so oft, wie er seine eigenen Söhne schlägt. Warum Mutter und Kind nicht liegen lassen? Groß ist die Welt, sagen die Knechte, andere Herrschaft findet sich leicht, neue Höfe gibt es genug, und etwas Besseres als der Tod findet sich, wo immer du suchst.

Er weiß, dass man nachts nicht im Wald sein soll, und er hat Hunger, und stechenden Durst hat er auch, weil er irgendwo am Weg den Bierschlauch verloren hat. Er schließt die Augen. Das hilft. Wenn man die Augen schließt, ist man bei sich, da ist dann kein anderer, der einem etwas tut, da ist man innen, da ist dann nur man selbst. Er erinnert sich an Wiesen, durch die er gelaufen ist, als er ein Kind war, er erinnert sich an frisches Brot, so gut, wie er es schon lange nicht mehr bekommen hat, und an einen Mann, der ihn mit einem Stock geschlagen hat, vielleicht war es sein Vater, er weiß es nicht. Und so ist er dem Mann davongelaufen, und dann war er anderswo, dann ist er wieder fortgelaufen. Fortlaufen ist etwas Wunderbares. Es gibt

keine Gefahr, der man nicht entkommen kann, wenn man schnelle Beine hat.

Aber diesmal läuft er nicht. Er hält das Kind, und Agnetas Kopf hält er auch, und als sie aufstehen will, stützt er sie und wuchtet sie empor.

Trotzdem wäre Agneta nicht auf die Füße gekommen, hätte sie sich nicht an das mächtigste aller Quadrate erinnert. Merk es dir, hat Claus gesagt, benütz es nur in der Not. Du kannst es schreiben, nur aussprechen darfst du es nie! Und so hat sie den letzten Rest Klarheit in ihrem Kopf dazu verwendet, die Buchstaben in den Boden zu ritzen. Es beginnt mit SALOM AREPO, aber wie es weitergeht, ist ihr nicht eingefallen; das Schreiben ist dreifach schwer, wenn man es nie gelernt hat und wenn es dunkel ist und wenn man blutet. Aber dann hat sie sich über Claus' Anweisung hinweggesetzt und mit krächzender Stimme gerufen: «Salom Arepo Salom Arepo!» Und schon, da selbst Bruchstücke Kraft entfalten, kommt ihre Erinnerung zurück, und sie weiß auch den Rest.

Und allein dadurch schon, sie hat es fühlen können, sind die bösen Kräfte zurückgewichen, die Blutung hat nachgelassen, und das Kind ist unter Schmerzen wie von glühenden Eisen aus ihrem Leib gerutscht.

So gerne wäre sie liegen geblieben. Aber sie weiß, wer viel

Blut verloren hat, der bleibt, wenn er liegt, für immer liegen.

«Gib mir das Kind.»

Er gibt es ihr.

Sie kann es nicht sehen, die Nacht ist so schwarz, als wäre man blind, aber als sie das kleine Wesen hält, spürt sie, dass es noch lebt.

Keiner wird von dir wissen, denkt sie. Keiner sich erinnern, nur ich, deine Mutter, und ich vergesse nicht, weil ich nicht vergessen darf. Denn alle anderen werden dich vergessen.

Das hat sie auch den anderen drei gesagt, die ihr bei der Geburt gestorben sind. Und wirklich, von jedem weiß sie noch alles, was es zu wissen gibt: den Geruch, die Schwere, die jedes Mal ein wenig andere Gestalt in ihren Händen. Sie hatten nicht einmal Namen.

Ihre Knie knicken ein, Heiner hält sie. Für einen Augenblick ist die Versuchung stark, sich einfach wieder hinzulegen. Aber sie hat zu viel Blut verloren, die Kalte ist nicht weit, und auch das kleine Volk könnte sie finden. Sie reicht Heiner das Kind und will losgehen, doch sofort fällt sie und liegt auf Wurzeln und Reisig und spürt, wie groß die Nacht ist. Warum widersteht man eigentlich? Es wäre so leicht. Einfach loslassen. So leicht.

Stattdessen schlägt sie die Augen auf. Sie fühlt die Wurzeln unter sich. Sie schlottert vor Kälte und begreift, dass sie noch lebt.

Wieder steht sie auf. Offenbar hat die Blutung nachgelassen. Heiner hält ihr das Kind hin; sie nimmt es und merkt sofort, dass kein Leben mehr in ihm ist, also gibt sie es zurück, denn sie braucht beide Hände, um sich an einem Baumstamm festzuhalten. Er legt es auf den Boden, aber sie zischt ihn an, und er hebt es wieder auf. Denn natürlich kann man es nicht hier lassen: Moos würde darüberwachsen, Pflanzen würden es umschlingen, Käfer seine Glieder bewohnen, sein Geist würde nie ruhen.

Und in diesem Moment geschieht es, dass Claus in der Dachkammer seiner Mühle die Ahnung beschleicht, dass etwas nicht in Ordnung ist. Schnell murmelt er ein Gebet, streut eine Prise zerriebenen Alraun in die Flamme seiner qualmenden Tranfunzel. Das schlechte Omen bestätigt sich: Anstatt aufzulodern, verlöscht die Flamme sofort. Scharfer Gestank erfüllt den Raum.

In der Dunkelheit schreibt Claus ein Quadrat mittlerer Kraft an die Wand:

Danach, um sicherzugehen, sagt er siebenmal laut: Nipson anomimata mi monan ospin. Er weiß, dass das Griechisch ist. Was es heißt, weiß er nicht, aber es liest sich vorwärts genauso wie rückwärts, und Sätze dieser Art haben besondere Kraft. Dann legt er sich wieder auf den harten Bretterboden, um mit seiner Arbeit weiterzumachen.

Zurzeit beobachtet er jede Nacht den Lauf des Mondes.

Seine Fortschritte sind so schleppend, dass es zum Verzweifeln ist. Der Mond geht jedes Mal anderswo auf als in der Nacht zuvor, seine Bahn bleibt nie die gleiche. Und weil offenbar keiner das erläutern kann, hat Claus beschlossen, die Sache selbst aufzuklären.

«Wenn etwas keiner weiß», hat ihm Wolf Hüttner einst gesagt, «müssen wir es rausfinden!»

Hüttner, der Mann, der sein Lehrer war, ein Chiromant und Geisterbeschwörer zu Konstanz, von Beruf Nachtwächter. Claus Ulenspiegel ist einen Winter lang bei ihm im Dienst gewesen, und kein Tag vergeht, da er nicht dankbar an ihn denkt. Hüttner hat ihm die Quadrate, Sprüche und wirkstarken Kräuter gezeigt, und Claus hat kein Wort versäumt, wenn Hüttner zu ihm vom kleinen Volk und dem großen Volk und den Alten der Vorzeit und dem Volk der tiefen Erde und den Geistern der Luft gesprochen hat und davon, dass man den Gelehrten nicht trauen dürfe, denn sie wüssten nichts, aber sie gäben es nicht zu, um die Gnade ihrer Fürsten nicht zu verlieren, und als Claus nach der Schneeschmelze weitergezogen ist, hat er drei Bücher aus Hüttners Sammlung im Sack gehabt. Damals hat er noch nicht lesen können, aber das hat ihm dann in Augsburg ein Pastor beigebracht, den er vom Rheuma geheilt hat, und als er weitergezogen ist, hat er auch drei Bücher aus der Bibliothek des Pastors mitgenommen. Schwer sind all die Bücher gewesen, ein Dutzend von ihnen füllten den Tragesack wie Blei. Bald ist ihm klargeworden, dass er entweder die Bücher zurücklassen oder sesshaft werden muss, am besten an einem versteckten Ort abseits der großen Straßen, denn Bücher sind teuer, und nicht alle Besitzer haben sich freiwillig von ihnen getrennt, und wenn man Pech hat, könnte Hüttner selbst plötzlich vor der Tür stehen, einen Fluch auf ihn legen und zurückverlangen, was ihm gehörte.