«Wahrscheinlich war's ein Wolf», sagt Sepp und rudert mit den Armen, um die Fliegen abzuwehren.
«Das würde anders aussehen», sagt Claus.
«Die Kalte?»
«Die interessiert sich nicht für Esel.» Claus bückt sich und tastet. Ein glatter Schnitt, nirgends Bissspuren. Kein Zweifel, das ist ein Messer gewesen.
Sie rufen nach dem Jungen. Sie horchen, sie rufen wieder. Sepp blickt nach oben und verstummt. Claus und Heiner rufen weiter. Sepp steht wie erstarrt.
Nun blickt auch Claus nach oben. Das Entsetzen greift nach ihm und hält ihn und greift noch fester zu, sodass er meint, er müsse ersticken. Etwas schwebt über ihnen, weiß vom Kopf bis zu den Füßen, und stiert herab, und obgleich es schon dunkel wird, sieht man die großen Augen, die gefletschten Zähne, das verzerrte Gesicht. Und jetzt, da sie emporstarren, hören sie ein hohes Geräusch. Es klingt wie ein Schluchzen, aber das ist es nicht. Was auch immer da über ihnen ist, es lacht.
«Komm runter», ruft Claus.
Der Junge, denn er ist es wirklich, kichert und rührt sich nicht. Ganz nackt ist er, ganz weiß. Er muss sich im Mehl gewälzt haben.
«Herrgott», sagt Sepp. «Großer gütiger Herrgott!»
Und während Claus hinaufblickt, sieht er noch etwas, was er eben noch nicht gesehen hat, weil es zu sonderbar ist. Was der Junge da oben auf dem Kopf trägt, während er kichernd und nackt auf einem Seil steht, ohne herabzufallen, ist kein Hut.
«Heilige Jungfrau», sagt Sepp. «Hilf und verlass uns nicht.»
Auch Heiner bekreuzigt sich.
Claus zieht sein Messer und ritzt mit zitternder Hand ein Pentagramm in einen Stamm: Spitze nach rechts, die Form fest geschlossen. Rechts davon ritzt er ein Alpha, links ein Omega ein, dann hält er den Atem an, zählt langsam bis sieben und murmelt eine Bannformel - Geister der oberen Welt, Geister der unteren, alle Heiligen, gütige Jungfrau, steht uns bei im Namen des dreifaltigen Gottes. «Hol ihn runter», sagt er dann zu Sepp. «Schneid das Seil durch!»
«Warum ich?»
«Weil ich es sage.»
Sepp starrt und bewegt sich nicht. Fliegen landen auf seinem Gesicht, aber er scheucht sie nicht weg.
«Dann du», sagt Claus zu Heiner.
Heiner öffnet und schließt den Mund. Würde ihm das Sprechen nicht so schwerfallen, spräche er jetzt davon, dass er gerade erst eine Frau durch den Wald geschleppt und gerettet
hat; ganz auf sich gestellt, hat er den Weg gefunden. Er spräche davon, dass alles seine Grenzen hat, auch die Duldsamkeit des Sanftesten. Aber da das Reden nicht seine Sache ist, verschränkt er die Arme und blickt verstockt auf den Boden.
«Dann du», sagt Claus zu Sepp. «Einer muss es machen. Und ich habe Rheuma. Du kletterst jetzt, oder du bereust es, solang du lebst.» Er versucht, sich an den Spruch zu erinnern, mit dem man Widerstrebende zum Gehorsam zwingt, aber die Worte fallen ihm nicht ein.
Sepp stößt furchtbare Flüche aus und beginnt zu klettern. Er stöhnt, die Äste geben keinen guten Halt, und er muss sich mit aller Kraft bemühen, nicht zu der weißen Erscheinung hinaufzusehen.
«Was soll das?», ruft Claus empor. «Was ist in dich gefahren?»
«Der große, große Teufel», sagt der Junge fröhlich.
Sepp steigt wieder herab. Diese Antwort zu hören ist über seine Kräfte gegangen. Außerdem ist ihm wieder eingefallen, dass er den Jungen ja in den Bach geworfen hat, und falls der es noch weiß und auf ihn wütend ist, dann ist jetzt nicht mehr der Moment, ihm zu begegnen. Er erreicht den Boden und schüttelt den Kopf.
«Dann du!», sagt Claus zu Heiner.
Aber der dreht sich wortlos um, geht davon und verschwindet im Dickicht. Eine Weile hört man ihn noch. Dann nicht mehr.
«Geh wieder hinauf», sagt Claus zu Sepp.
«Nein!»
«Mutus dedit», murmelt Claus, der sich nun doch an die Worte der Formel erinnert, «<mutus dedit nomen -»
«Hilft nichts», sagt Sepp. «Ich mach es nicht.»
Es kracht im Unterholz, Äste brechen, Heiner ist wieder da. Ihm ist klargeworden, dass es gleich Nacht sein wird. Er kann nicht allein im dunklen Wald sein, das hält er nicht noch einmal aus. Wütend wehrt er Fliegen ab, lehnt sich an einen Stamm und brummt vor sich hin.
Als Claus und Sepp sich von ihm abwenden, merken sie, dass der Junge neben ihnen steht. Erschrocken springen sie zurück. Wie ist er so schnell heruntergekommen? Der Junge nimmt das ab, was er auf dem Kopf getragen hat: ein Stück fellbedeckte Kopfhaut mit zwei langen Eselsohren. Seine Haare sind verkrustet von Blut.
«Um Gottes willen», sagt Claus. «Um Marias und Gottes und des Sohnes willen.»
«Die Zeit war lang», sagt der Junge. «Niemand ist gekommen. Es war nur ein Spaß. Und die Stimmen! Ein großer Spaß.»
«Was für Stimmen?»
Claus sieht sich um. Wo ist der Rest des Eselskopfes? Die Augen, der Kiefer mit den Zähnen, der ganze riesige Schädelknochen, wo ist das alles?
Der Junge kniet sich langsam hin. Dann kippt er lachend zur Seite und rührt sich nicht mehr.
Sie heben ihn auf, wickeln ihn in eine Decke und machen sich davon - weg von dem Wagen, dem Mehl, dem Blut. Eine Weile stolpern sie durch die Dunkelheit, bis sie sich sicher genug fühlen, das Kind abzulegen. Sie zünden kein Feuer an, und sie sprechen nicht miteinander, um nichts herbeizulocken. Der Junge kichert im Schlaf, seine Haut fühlt sich heiß an. Äste krachen, der Wind flüstert, mit geschlossenen Augen murmelt Claus Gebete und Bannsprüche, was ein wenig hilft, denn nach und nach wird ihnen besser. Während er betet, versucht er zu überschlagen, wie viel ihn das kosten wird: Der Wagen ist zerstört, der Esel tot, vor allem wird er das Mehl ersetzen müssen. Wovon soll er das bezahlen?
In den frühen Morgenstunden lässt das Fieber des Jungen nach. Als er aufwacht, fragt er verwirrt, wovon seine Haare so verklebt sind und warum sein Körper weiß ist. Dann zuckt er mit den Schultern und findet es nicht weiter wichtig, und als sie ihm sagen, dass Agneta am Leben ist, freut er sich und lacht. Sie finden einen Bach, er wäscht sich; das Wasser ist so kalt, dass er am ganzen Körper zittert. Claus wickelt ihn wieder in die Decke, und sie brechen auf. Auf dem Heimweg erzählt der Junge das Märchen, das er von Agneta gehört hat. Eine Hexe kommt darin vor und ein Ritter und ein goldener Apfel, und am Ende geht alles gut aus, die Prinzessin heiratet den Helden, die böse Alte ist mausetot.
Zurück in der Mühle, auf seinem Strohsack neben dem Herd, schlummert der Junge in der Nacht so tief, als könnte nichts ihn je wieder wecken. Er ist der Einzige, der schlafen kann, denn das gestorbene Kind kehrt wieder: nur ein Flackern in der Dunkelheit, dazu ein leises Wimmern, mehr ein Luftzug als eine Stimme. Eine Zeitlang ist es hinten im Verschlag, wo Claus und Agneta liegen, aber als es nicht ans Bett der Eltern kann, weil die Pentagramme auf den Pfosten es abhalten, taucht es in der Stube auf, wo der Junge und die Knechte sich um den warmen Herd gebettet haben. Es ist blind und taub und versteht nichts und stößt den Milcheimer um, wirbelt die frisch gewaschenen Tücher vom Küchenbrett und verwickelt sich im Vorhang am Fenster, bevor es verschwindet - in den Limbus, wo die Ungetauften zehnmal hunderttausend Jahre in der Eiseskälte frieren, bevor der Herr ihnen vergibt.
Ein paar Tage später schickt Claus den Jungen zu Ludwig Stelling, dem Schmied, ins Dorf. Claus braucht einen neuen Hammer, der aber nicht teuer sein darf, denn seit er die Ladung Mehl verloren hat, ist er bei Martin Reutter hoch verschuldet.
Auf dem Weg hebt der Junge drei Steine auf. Er wirft den ersten in die Höhe, dann den zweiten, dann fängt er den ersten und wirft ihn wieder hoch, dann wirft er den dritten, fängt den zweiten und wirft ihn wieder, dann fängt er den dritten und wirft ihn, dann wieder den ersten - nun sind alle drei in der Luft. Seine Hände machen kreisende Bewegungen, und alles geht wie von selbst. Der Kniff ist, nicht zu denken und keinen der Steine scharf anzusehen. Man muss genau aufpassen und zugleich so tun, als wären sie nicht da.