So geht er, umwirbelt von den Steinen, an Hanna Krells Haus vorbei und über das Steger'sche Feld. Vor der Schmiede lässt er die Steine in den feuchten Schlamm fallen und tritt ein.
Er legt zwei Münzen auf den Amboss. Zwei hat er noch in der Tasche, aber das muss der Schmied nicht wissen.
«Viel zu wenig», sagt der Schmied.
Der Junge zuckt die Achseln, nimmt die beiden Münzen und wendet sich zur Tür.
«Warte», sagt der Schmied.
Der Junge bleibt stehen.
«Du musst schon mehr geben.»
Der Junge schüttelt den Kopf.
«So geht das nicht», sagt der Schmied. «Wenn du was kaufen willst, musst du handeln.»
Der Junge geht zur Tür.
«Warte!»
Der Schmied ist riesenhaft, sein nackter Bauch ist behaart, um den Kopf hat er ein Tuch gebunden, sein Gesicht ist rot und voller Poren. Jeder im Dorf weiß, dass er nachts mit der Ilse Melkerin ins Gesträuch geht, nur Ilses Mann weiß es nicht, oder vielleicht weiß er es doch und tut nur so, als wüsste er es nicht, denn was kann man schon ausrichten gegen einen Schmied. Wenn der Priester sonntags über die Sittenlosigkeit predigt, sieht er immer den Schmied an und manchmal auch Ilse. Aber das hält die beiden nicht ab.
«Das ist zu wenig», sagt der Schmied.
Aber der Junge weiß, dass er gewonnen hat, er wischt sich
über die Stirn. Vom Feuer strahlt grelle Hitze, Schatten tanzen an der Wand. Er legt seine Hand aufs Herz und schwört: «Mehr hab ich nicht mitbekommen, beim Heil meiner Seele!»
Mit wütendem Gesicht gibt der Schmied ihm den Hammer. Der Junge bedankt sich artig und geht langsam, damit die Münzen in seiner Tasche nicht klimpern, zur Tür.
Er geht an Jakob Brantners Stall und dem Melkerhaus und dem Tammhaus vorbei bis zum Dorfplatz. Ob Nele wohl da ist? Und wirklich, da sitzt sie, im Nieselregen, auf dem Mäuerchen des Brunnens.
«Du schon wieder», sagt er.
«Dann geh doch weg», sagt sie.
«Geh selber weg.»
«Ich war vorher da.»
Er setzt sich neben sie. Beide grinsen.
«Der Händler war hier», sagt sie. «Er hat gesagt, der Kaiser lässt jetzt alle hohen Herren Böhmens köpfen.»
«Auch den König?»
«Den Winterkönig. Auch den. So nennen sie ihn, weil er nur einen Winter König war, nachdem ihm die Böhmen ihre Krone gegeben haben. Er konnte fliehen und wird zurückkommen, an der Spitze eines großen Heeres, der englische König ist nämlich der Vater seiner Frau. Er wird Prag zurückerobern, und den Kaiser wird er absetzen und selbst Kaiser sein.»
Hanna Krell kommt mit einem Eimer und macht sich am Brunnenrand zu schaffen. Das Wasser ist schmutzig, trinken kann man es nicht, aber man braucht es zum Waschen und für das Vieh. Als sie klein waren, haben sie Milch getrunken, aber seit ein paar Jahren sind sie alt genug für Dünnbier. Alle im Dorf essen Grütze und trinken Dünnbier. Sogar die reichen Stegers. Für Winterkönige und Kaiser gibt es Rosenwasser und Wein, aber einfache Menschen trinken Milch und Dünnbier, von ihrem ersten Tag an bis zum letzten.
«Prag», sagt der Junge.
«Ja», sagt Nele. «Prag!»
Beide denken an Prag. Gerade weil es nur ein Wort ist, weil sie nichts darüber wissen, klingt es so verheißungsvoll wie aus einem Märchen.
«Wie weit ist Prag?», fragt der Junge.
«Sehr weit.»
Er nickt, als wäre das eine Antwort gewesen. «Und England?»
«Auch sehr weit.»
«Da reist man wohl ein Jahr.»
«Länger.»
«Wollen wir hin?»
Nele lacht.
«Warum nicht?», fragt er.
Sie antwortet nicht, und er weiß, dass sie jetzt aufpassen müssen. Ein falsches Wort kann Folgen haben. Peter Stegers jüngster Sohn hat Else Brantnerin voriges Jahr eine Holzpfeife geschenkt, und weil sie die angenommen hat, sind die beiden jetzt verlobt, obwohl sie einander gar nicht mögen. Die Angelegenheit ist bis zum Landvogt in der Amtstadt gegangen,
der es wiederum ans Offizial weitergeleitet hat, wo entschieden wurde, dass da nichts zu machen ist: Ein Geschenk ist ein Versprechen, und ein Versprechen gilt vor Gott. Jemanden zu einer Reise einzuladen ist noch kein Geschenk, aber es ist fast ein Versprechen. Der Junge weiß es, und er weiß, dass Nele es auch weiß, und sie beide wissen, dass sie das Thema wechseln müssen.
«Wie geht es deinem Vater?», fragt der Junge. «Das Rheuma besser?»
Sie nickt. «Ich weiß nicht, was dein Vater gemacht hat. Aber es hat geholfen.»
«Sprüche und Kräuter.»
«Wirst du das lernen? Leute heilen, wirst du das auch mal können?»
«Ich will lieber nach England.»
Nele lacht.
Er steht auf. Er hat die unbestimmte Hoffnung, dass sie ihn zurückhalten wird, aber sie rührt sich nicht.
«Beim nächsten Sonnwendfest», sagt er. «Ich werde übers Feuer springen wie die anderen.»
«Ich auch.»
«Du bist ein Mädchen!»
«Und das Mädchen haut dich gleich.»
Er geht los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er weiß, dass das wichtig ist, denn wenn er sich umdreht, hat sie gewonnen.
Der Hammer ist schwer. Vor dem Heinerlinghaus endet der
Holzsteg, der Junge verlässt den Weg und schlägt sich durchs hohe Gras. Das ist nicht ganz ungefährlich, der kleinen Leute wegen. Er denkt an Sepp. Seit der Nacht im Wald hat der Knecht Angst vor ihm und hält sich in sicherer Entfernung, das ist nützlich. Wenn er bloß wüsste, was im Wald passiert ist. Er weiß, dass er nicht daran denken möchte. Erinnerung ist etwas Eigenartiges: Sie kommt und geht nicht einfach, wie sie will, sondern man kann sie hell machen und wieder löschen wie einen Kienspan. Der Junge denkt an seine Mutter, die gerade erst wieder hat aufstehen dürfen, und für einen Moment denkt er auch an das tote Kleine, seine Schwester, deren Seele jetzt in der Kälte ist, weil man sie nicht getauft hat.
Er bleibt stehen und blickt empor. Über den Kronen müsste man das Seil spannen, von einem Kirchturm zum nächsten, von Dorf zu Dorf. Er breitet die Arme aus und stellt es sich vor. Dann setzt er sich auf einen Stein und sieht zu, wie die Wolken sich teilen. Warm ist es geworden, und die Luft füllt sich mit Dampf. Er schwitzt, legt den Hammer neben sich. Plötzlich fühlt er sich schläfrig, und er hat Hunger, aber es sind noch viele Stunden bis zur Grütze. Und wenn man fliegen könnte? Mit den Armen schlagen, sich vom Seil lösen, höher steigen, höher? Er bricht einen Halm ab und schiebt ihn sich zwischen die Lippen. Der Halm schmeckt süßlich, feucht und ein wenig scharf. Er legt sich ins Gras und schließt die Augen, sodass das Sonnenlicht warm auf seinen Lidern liegt. Die Nässe des Grases dringt klamm durch seine Kleidung.
Ein Schatten fällt auf ihn. Der Junge öffnet die Augen.
«Habe ich dich erschreckt?»
Der Junge setzt sich auf, schüttelt den Kopf. Fremde sind hier selten. Manchmal kommt der Vogt aus der Kreishauptstadt, und hin und wieder kommen Händler. Aber diesen Fremden kennt er nicht. Er ist jung, kaum schon ein Mann. Er hat ein kleines Bärtchen, und er trägt ein Wams, eine Hose aus gutem grauem Stoff und hohe Stiefel. Sein Blick ist hell und neugierig.
«Hast dir vorgestellt, wie das wäre, wenn du fliegen könntest?»
Der Junge starrt den Fremden an.
«Nein», sagt der Fremde, «das war keine Zauberei. Man kann Gedanken nicht lesen. Keiner kann das. Aber wenn ein Kind die Arme ausbreitet und sich auf die Zehenspitzen stellt und nach oben schaut, denkt es ans Fliegen. Das macht es, weil es noch nicht ganz glauben kann, dass es nie fliegen wird. Dass Gott uns das Fliegen nicht erlaubt. Den Vögeln schon, aber uns nicht.»
«Irgendwann können wir alle fliegen», sagt der Junge. «Wenn wir tot sind.»
«Wenn man tot ist, ist man erst einmal tot. Dann liegt man im Grab, bis der Herr wiederkehrt, uns zu richten.»