«Wann kehrt er wieder?»
«Hat der Priester dir das nicht beigebracht?»
Der Junge zuckt die Achseln. Natürlich spricht der Priester in der Kirche oft über diese Dinge, das Grab, das Gericht, die Toten, aber er hat eine monotone Stimme, und dass er betrunken ist, kommt auch nicht selten vor.
«Am Ende der Zeit», sagt der Fremde. «Nur können die Toten keine Zeit empfinden, sie sind ja tot, also kann man auch sagen: Sofort. Sobald du tot bist, bricht der Tag des Gerichts an.»
«Das hat mein Vater auch gesagt.»
«Dein Vater ist ein Gelehrter?»
«Mein Vater ist Müller.»
«Hat er Meinungen? Liest er?»
«Er weiß viel», sagt der Junge. «Er hilft den Menschen.»
«Hilft ihnen?»
«Wenn sie krank sind.»
«Vielleicht kann er mir auch helfen.»
«Seid Ihr krank?»
Der Fremde setzt sich neben ihn auf den Boden. «Was meinst du, bleibt es sonnig, oder kommt der Regen wieder?»
«Woher soll ich das wissen.»
«Du bist doch von hier!»
«Der Regen kommt wieder», sagt der Junge, weil es ja meistens regnet, das Wetter ist fast immer schlecht. Deshalb ist die Kornernte so übel, deshalb bekommt die Mühle nicht genug Getreide, deshalb haben alle Hunger. Angeblich war es früher besser. Die älteren Leute erinnern sich an lange Sommer, aber vielleicht bilden sie es sich auch ein, wer kann es wissen, sie sind alt.
«Mein Vater meint», sagt der Junge, «dass auf den Regenwolken die Engel reiten und auf uns heruntersehen.»
«Wolken sind aus Wasser», sagt der Fremde. «Niemand sitzt
auf ihnen. Die Engel haben Körper aus Licht und brauchen kein Gefährt. Wie auch die Dämonen. Die sind aus Luft. Deshalb nennt man den Teufel den Herrn der Lüfte.» Er hält inne, als wollte er seinen eigenen Sätzen nachhorchen, und betrachtet mit beinahe neugierigem Ausdruck seine Fingerspitzen. «Und doch», sagt er dann, «sind sie nichts als Partikel von Gottes Willen.»
«Auch die Teufel?»
«Natürlich.»
«Die Teufel sind Gottes Wille?»
«Gottes Wille ist größer als alles, was sich vorstellen lässt. Er ist so groß, dass er sich selbst zu verneinen vermag. Ein altes Rätsel lautet: Kann Gott einen Stein so schwer machen, dass er ihn danach nicht mehr heben kann? Das klingt nach einem Paradox. Weißt du, was das ist, ein Paradox?»
«Ja.»
«Wirklich?»
Der Junge nickt.
«Was denn?»
«Ihr seid ein Paradox, und Euer Galgenstrick von einem Kupplervater ist auch eines.»
Der Fremde schweigt einen Moment, dann ziehen sich seine Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln empor. «Es ist eigentlich kein Paradox, denn die richtige Antwort lautet: Natürlich kann er das. Aber danach kann er den Stein, den er nicht mehr heben kann, ohne Mühe heben. Gott ist zu umfassend, um mit sich eins zu sein. Deshalb gibt es den Herrn
der Luft und seine Konsorten. Deshalb gibt es alles, was nicht Gott ist. Deshalb gibt es die Welt.»
Der Junge hebt eine Hand vors Gesicht. Die Sonne steht nun frei von Wolken, eine Amsel flattert vorbei. Ja doch, denkt er, so müsste man fliegen, das wäre noch besser, als auf dem Seil zu gehen. Aber wenn man nun mal nicht fliegen kann, dann ist auf dem Seil zu gehen das Zweitbeste.
«Deinen Vater würde ich gern kennenlernen.»
Der Junge nickt gleichgültig.
«Beeil dich lieber», sagt der Fremde. «In einer Stunde regnet es.»
Der Junge zeigt fragend auf die Sonne.
«Siehst du die kleinen Wolken dort hinten?», fragt der Fremde. «Und die langgezogenen über uns? Die dort hinten ballt der Wind zusammen, der kommt aus Osten und bringt kalte Luft, und die über uns fangen sie auf, und dann kühlt alles noch weiter ab, und das Wasser wird schwer und fällt zur Erde. Es sitzen keine Engel auf den Wolken, aber es lohnt sich trotzdem, sie anzusehen, denn sie bringen Wasser und Schönheit. Wie heißt du?»
Der Junge sagt es ihm.
«Vergiss deinen Hammer nicht, Tyll.» Der Fremde wendet sich ab und geht davon.
Claus ist düster zumute an diesem Abend. Dass er das Körnerproblem nicht lösen kann, liegt ihm bei Tisch auf der Seele.
Es ist vertrackt. Wenn man einen Kornhaufen vor sich hat und ein Korn davon wegnimmt, so hat man noch immer einen Haufen vor sich. Nun nimm noch eines. Ist das noch ein Haufen? Natürlich. Nun nimm noch eines weg. Ist das noch ein Haufen? Ja, natürlich. Nun nimm noch eines weg. Ist es noch ein Haufen? Natürlich. Und immer so weiter. Es ist ganz simpeclass="underline" Nie wird ein Kornhaufen allein dadurch, dass man ein einziges Korn wegnimmt, zu etwas, das kein Kornhaufen ist. Niemals auch wird etwas, das kein Kornhaufen ist, dadurch, dass man ein Korn dazulegt, zu einem Haufen.
Und doch: Nimmt man Korn um Korn fort, ist der Haufen irgendwann kein Haufen mehr. Irgendwann liegen bloß noch ein paar Körnchen auf dem Boden, die man beim allerbesten Willen nicht Haufen nennen kann. Und wenn man noch weitermacht, kommt einmal der Moment, da man das letzte nimmt und auf dem Boden nichts mehr liegt. Ist ein Korn ein Haufen? Sicher nicht. Und gar nichts? Nein, gar nichts ist kein Haufen. Denn gar nichts ist gar nichts.
Aber welches Korn ist das Korn, durch dessen Fortnahme der Haufen aufhört, ein Haufen zu sein? Wann geschieht es eigentlich? Hunderte Male hat Claus es durchgespielt, Hunderte Kornhaufen hat er in seiner Phantasie aufgeschüttet, um dann im Geist einzelne Körner fortzunehmen. Aber er hat den entscheidenden Moment nicht gefunden. Es hat sogar den Mond verdrängt aus seiner Aufmerksamkeit, und auch ans gestorbene Kind hat er nicht mehr oft gedacht.
Heute Nachmittag hat er es dann in Wirklichkeit probiert.
Am schwierigsten ist es gewesen, so viel ungemahlenes Korn hinauf in die Dachkammer zu bekommen, ohne dass dabei etwas verlorengeht, denn übermorgen kommt ja Peter Steger und holt das Mehl ab: Schreiend und mit Drohungen hat Claus die Knechte zur Vorsicht anhalten müssen, noch mehr Schulden kann er sich nicht leisten. Agneta hat ihn ein pelziges Hornvieh genannt, worauf er ihr gesagt hat, sie soll sich nicht in Dinge mischen, die für Frauen zu schwierig sind, woraufhin sie ihm eine gelangt hat, woraufhin er ihr gesagt hat, dass sie sich in Acht nehmen soll, worauf sie ihm eine solche Ohrfeige gegeben hat, dass er sich für eine Weile hat hinsetzen müssen. So kommt es oft zwischen ihnen. Am Anfang hat er Agneta manchmal zurückgeschlagen, aber das ist ihm nie gut bekommen, er ist zwar stärker, doch sie ist meist wütender, und in jedem Zwist gewinnt der, der wütender ist, und so hat er es sich schon lange wieder abgewöhnt, sie zu schlagen, denn so schnell, wie ihre Wut kommt, so schnell verfliegt sie zum Glück auch.
Dann hat er in seiner Dachkammer zu arbeiten begonnen. Zu Anfang besonnen und gewissenhaft, bei jedem Korn den Haufen prüfend, aber nach und nach schwitzend und mürrisch und am späten Nachmittag schon in blanker Verzweiflung. Irgendwann hat auf der rechten Seite des Raumes ein neuer Haufen gelegen und auf der linken etwas, das man vielleicht noch einen Haufen hätte nennen können, vielleicht aber auch nicht. Und eine Weile später ist links nur noch eine Handvoll Körner gewesen.
Und wo war nun eigentlich die Grenze? Es ist zum Weinen. Er löffelt seine Grütze, seufzt und hört dem prasselnden Regen zu. Die Grütze schmeckt schlecht wie immer, aber für eine Weile besänftigt ihn das Regengeräusch. Dann fällt ihm ein, dass es sich mit Regen ja ähnlich verhält: Wie viele Tropfen weniger müssten fallen, damit es kein Regen mehr ist? Er stöhnt. Manchmal scheint es ihm, als wäre es Gottes Ziel gewesen, bei der Einrichtung der Welt den Verstand eines armen Müllers zu narren.
Agneta legt ihm die Hand auf den Arm und fragt, ob er mehr Grütze möchte.
Er möchte nicht, aber er versteht, dass er ihr leidtut und dass es ein Friedensangebot ist wegen der Ohrfeigen. «Ja», sagt er leise. «Danke.»
Da pocht es an der Tür.
Claus kreuzt die Finger zur Abwehr. Er murmelt einen Spruch, macht Zeichen in der Luft, dann erst ruft er: «Wer da, im Namen Gottes?» Alle wissen, dass man nie herein sagen darf, bevor der draußen seinen Namen ausgesprochen hat. Die bösen Geister sind mächtig, aber die allermeisten können nur über die Schwelle, wenn man sie einlädt.