Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel, die das Wasser rund und weiß geschliffen hat, sind noch dieselben, wie auch die Bäume dieselben sind. Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch
neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.
Herr der Luft
Kniehoch hat er das Seil gespannt, von der Linde zur alten Tanne. Dafür musste er Kerben schneiden, bei der Tanne war das leicht, bei der Linde ist das Messer immer wieder abgerutscht, aber schließlich ist es gegangen. Er prüft die Knoten, zieht bedächtig seine Holzschuhe aus, steigt aufs Seil, fällt.
Jetzt steigt er wieder auf, breitet die Arme aus und macht einen Schritt. Er breitet die Arme aus, aber er kann sich nicht halten und fällt. Er steigt wieder auf, versucht es, fällt von neuem.
Er versucht es wieder und fällt.
Man kann auf einem Seil nicht gehen. Das ist offensichtlich. Menschenfüße sind nicht gemacht dafür. Warum es überhaupt probieren?
Aber er probiert weiter. Immer fängt er bei der Linde an, jedes Mal fällt er sofort. Die Stunden vergehen. Am Nachmittag gelingt ein Schritt, ein einziger nur, und bis es dunkel wird, schafft er nicht noch einen. Doch für einen Augenblick hat das Seil ihn gehalten, und er hat darauf gestanden wie auf festem Boden.
Am nächsten Tag regnet es in Strömen. Er hockt im Haus
und hilft seiner Mutter. «Halt das Tuch straff, träum nicht, um Christi willen!» Und der Regen trommelt aufs Dach wie Hunderte kleine Finger.
Am nächsten Tag regnet es weiter. Eiskalt ist es, und das Seil ist klamm, man kann keinen Schritt machen.
Am nächsten Tag wieder Regen. Er steigt auf und fällt und steigt wieder auf und fällt, jedes Mal. Eine Weile liegt er auf dem Boden, die Arme ausgebreitet, die Haare nur ein dunkler Fleck vor Nässe.
Am nächsten Tag ist Sonntag, deshalb kann er erst am Nachmittag aufs Seil, der Gottesdienst dauert den ganzen Morgen. Am Abend gelingen drei Schritte, und wäre das Seil nicht nass gewesen, hätten es vier sein können.
Allmählich begreift er, wie man es machen kann. Seine Knie verstehen, die Schultern halten sich anders. Man muss dem Schwanken nachgeben, muss weich werden in Knien und Hüften, muss dem Sturz einen Schritt zuvorkommen. Die Schwere greift nach einem, aber schon ist man weiter. Seiltanz: dem Fallen davonlaufen.
Tags darauf ist es wärmer. Dohlen schreien, Käfer und Bienen brummen, und die Sonne lässt die Wolken zerrinnen. Sein Atem steigt in kleinen Wolken in die Luft. Die Helle des Morgens trägt die Stimmen weiter, er hört seinen Vater im Haus einen Knecht anschreien. Er singt vor sich hin, das Lied vom Schnitter, der heißt Tod, hat Gewalt vom großen Gott, das hat eine Melodie, zu der es sich gut auf dem Seil gehen lässt, aber offenbar war er zu laut, denn auf einmal steht Agneta,
seine Mutter, neben ihm und fragt, warum er nicht arbeitet.
«Ich komme gleich.»
«Wasser muss geholt werden», sagt sie, «der Herd geputzt.»
Er breitet die Arme aus, steigt aufs Seil und versucht, dabei nicht auf ihren gewölbten Bauch zu achten. Steckt wirklich ein Kind in ihr, strampelt und zuckt und hört ihnen zu? Der Gedanke stört ihn. Wenn Gott einen Menschen schaffen möchte, warum tut er das in einem anderen Menschen? Es liegt etwas Hässliches darin, dass alle Wesen im Verborgenen entstehen: Maden im Teig, Fliegen im Kot, Würmer in der braunen Erde. Nur ganz selten, das hat ihm sein Vater erklärt, wachsen Kinder aus Alraunwurzeln, und noch seltener Säuglinge aus faulen Eiern.
«Soll ich den Sepp schicken?», fragt sie. «Willst du, dass ich den Sepp schicke?»
Der Junge fällt vom Seil, schließt die Augen, breitet die Arme aus, steigt erneut auf. Als er wieder hinsieht, ist seine Mutter gegangen.
Er hofft, dass sie die Drohung nicht wahr macht, aber nach einer Weile kommt Sepp wirklich. Der sieht ihm kurz zu, dann tritt er ans Seil und stößt ihn herunter: kein leichter Schubs, sondern ein Stoß, so fest, dass der Junge der Länge nach hinschlägt. Vor Wut nennt er Sepp einen widerlichen Ochsenarsch, der mit seiner eigenen Schwester schläft.
Das ist nicht klug gewesen. Denn erstens weiß er gar nicht, ob Sepp, der wie alle Knechte von irgendwoher gekommen ist und irgendwohin weiterziehen wird, überhaupt eine Schwester
hat, zweitens hat der Kerl nur auf so etwas gewartet. Bevor der Junge aufstehen kann, hat Sepp sich auf seinen Hinterkopf gesetzt.
Er kann nicht atmen. Steine schneiden ihm ins Gesicht. Er windet sich, aber das hilft nichts, denn Sepp ist doppelt so alt wie er und dreimal so schwer und fünfmal so stark. Also nimmt er sich zusammen, um nicht zu viel Luft zu verbrauchen. Seine Zunge schmeckt nach Blut. Er atmet Dreck ein, würgt, spuckt. In seinen Ohren summt es und pfeift, und der Boden scheint sich zu heben, zu senken und wieder zu heben.
Plötzlich ist das Gewicht weg. Er wird auf den Rücken gerollt, Erde im Mund, die Augen verklebt, im Kopf ein bohrender Schmerz. Der Knecht zerrt ihn zur Mühle: über Kies und Erde, durch Gras, über noch mehr Erde, über scharfe Steinchen, vorbei an den Bäumen, vorbei an der lachenden Magd, dem Heuschuppen, dem Ziegenstall. Dann reißt er ihn empor, öffnet die Tür und stößt ihn hinein.
«Na wird auch Zeit», sagt Agneta. «Der Herd putzt sich nicht selbst.»
Geht man von der Mühle in Richtung Dorf, so muss man durch ein Stück Wald. Dort, wo sich die Bäume lichten und man die Flur des Dorfes überquert - Wiesen und Weiden und Äcker, davon ein Drittel brachliegend, zwei Drittel bewirtschaftet und geschützt von Bretterzäunen -, sieht man schon die Spitze des Kirchturms. Irgendwer liegt hier immer im Dreck und zimmert an den Zäunen, sie gehen ständig kaputt, aber sie müssen
standhalten, sonst entkommt das Vieh, oder die Tiere des Waldes zerstören das Korn. Die meisten Äcker gehören Peter Steger. Die meisten Tiere auch, man kann es leicht erkennen, sie haben sein Brandzeichen am Hals.
Zuerst kommt man am Haus der Hanna Krell vorbei. Sie sitzt, was soll sie sonst tun, auf ihrer Schwelle und flickt Kleidung, so verdient sie ihr Brot. Danach geht man durch die schmale Lücke zwischen dem Steger-Hof und dem Schmiedehaus des Ludwig Stelling, steigt auf den hölzernen Steg, der verhindert, dass man im weichen Kot einsinkt, lässt Jakob Kröhns Stall rechts liegen und befindet sich auf der Hauptstraße, die die einzige Straße ist: Hier wohnt Anselm Melker mit Frau und Kindern, neben ihm sein Schwager Ludwig Koller und daneben Maria Loserin, deren Mann voriges Jahr gestorben ist, weil jemand ihn verwünscht hat; die Tochter ist siebzehn und sehr schön, und sie wird Peter Stegers ältesten Sohn heiraten. Auf der anderen Seite wohnt Martin Holtz, der das Brot bäckt, gemeinsam mit seiner Frau und den Töchtern, und neben ihm sind die kleineren Häuser der Tamms, der Henrichs und der Familie Heinerling, aus deren Fenstern man oft Streiten hört; die Heinerlings sind keine guten Leute, sie haben keine Ehre. Alle außer dem Schmied und dem Bäcker haben draußen ein wenig Land, jeder hat ein paar Ziegen, aber nur Peter Steger, der reich ist, hat Kühe.
Dann ist man auf dem Dorfplatz mit der Kirche, der alten Dorflinde und dem Brunnen. Neben der Kirche steht das Pfarrhaus, neben dem Pfarrhaus das Haus, in dem der
Amtmann wohnt, Paul Steger, der Vetter von Peter Steger, der zweimal im Jahr die Felder begeht und jeden dritten Monat die Steuern zum Grundherrn bringt.