«Danke, Guglielmo, das genügt. Ich setze natürlich nach den Worten <verdienter deutscher Gelehrter> Eure Namen ein. Nichts zu danken. Ich bestehe darauf. Das ist das mindeste.»
Und vielleicht war sie das ja wirklich, dachte Olearius, die ihm bestimmte Unsterblichkeit - eine Erwähnung in Athanasius Kirchers Buch. Sein eigener Reisebericht würde fast so schnell wieder verschwinden wie die Gedichte, die der arme Fleming hin und wieder drucken ließ. Die gefräßige Zeit löschte fast alles, aber gegen das hier würde sie machtlos sein. An einer Sache bestand kein Zweifeclass="underline" Solange die Welt bestand, würde man Athanasius Kircher lesen.
Am nächsten Morgen fanden sie den Zirkus. Der Wirt der Herberge, in der sie übernachtet hatten, hatte sie nach Westen gewiesen; immer dem Feldweg nach, hatte er gesagt, dann könne man ihn nicht verfehlen. Und da es hier keine Hügel gab und alle Bäume gerodet waren, sahen sie schon nach kurzem in der Ferne eine Fahnenstange, an der ein buntes Stück Stoff flatterte.
Bald darauf konnten sie Zelte und ein aus Holz gezimmertes Halbrund von Zuschauerbänken erkennen, darüber waren zwei
Pfähle aufgerichtet, zwischen denen der dünne Strich eines Seiles gezogen war - die Zirkusleute mussten all das Holz selbst mitgebracht haben. Zwischen den Zelten standen Planwagen, Pferde und Esel weideten, ein paar Kinder spielten, ein Mann schlief in einer Hängematte. Eine alte Frau wusch Kleider in einem Bottich.
Kircher blinzelte. Ihm ging es nicht gut. Er fragte sich, ob es am Schaukeln der Kutsche lag oder doch an diesen beiden Deutschen. Unfreundlich waren sie, überernst, beschränkt, dicke Stirnen hatten sie, und außerdem, man konnte es schwer ignorieren, rochen sie schlecht. Er war lange nicht im Reich gewesen, er hatte schon fast vergessen gehabt, wie viel Kopfschmerzen es machte, unter Deutschen zu sein.
Die beiden unterschätzten ihn, das war offensichtlich. Er war gewöhnt daran. Schon als Kind war er unterschätzt worden, von den Eltern zuerst, dann vom Lehrer in der Dorfschule, bis der Priester ihn den Jesuiten empfohlen hatte. Die hatten ihn studieren lassen, aber dann war er von seinen Mitbrüdern unterschätzt worden, die in ihm nur einen eifrigen jungen Mann gesehen hatten - keiner hatte bemerkt, wie viel mehr er vermochte, nur sein Mentor Tesimond hatte etwas in ihm erkannt und ihn aus der Menge der langsam denkenden Mönche herausgeholt. Quer durchs Land waren sie gereist, viel hatte er von Tesimond gelernt, aber auch der hatte ihn unterschätzt, hatte ihm bloß ein Dasein als Famulus zugetraut, sodass er sich von ihm hatte lösen müssen, Schritt für Schritt und mit größter Vorsicht, denn einen wie ihn durfte man nicht gegen sich aufbringen. Er hatte so tun müssen, als wären die Bücher, die er schrieb, eine harmlose Grille, aber heimlich hatte er sie mit Widmungsbriefen an die wichtigen Leute im Vatikan geschickt. Und tatsächlich hatte Tesimond es nicht verwunden, dass sein Sekretär plötzlich nach Rom berufen worden war; krank war er geworden, und er hatte sich geweigert, ihn zum Abschied zu segnen. Kircher sah es noch deutlich vor sich: das Zimmer in Wien, Tesimond, fest in die Bettdecke gewickelt. Das alte Wrack hatte irgendwas gemurmelt und getan, als verstünde er ihn nicht, und so hatte Kircher ohne seinen Segen nach Rom ziehen müssen, wo ihn die Mitarbeiter der großen Bibliothek willkommen geheißen hatten, nur um ihn ebenfalls gleich zu unterschätzen. Sie hatten gedacht, er wäre dafür gut, Bücher zu bewahren, Bücher zu pflegen, Bücher zu studieren, aber sie hatten nicht begriffen, dass er schneller ein Buch schreiben konnte, als ein anderer brauchte, um es zu lesen, und so hatte er es ihnen beweisen müssen, wieder und wieder und wieder, bis ihn der Papst endlich auf den wichtigsten Lehrstuhl seiner Universität berufen und mit allen Sondervollmachten ausgestattet hatte.
Es würde immer so sein. Die Verwirrtheit von früher lag hinter ihm, er verlor sich nicht mehr in der Zeit. Und doch erkannten die Leute nicht, welche Kraft in ihm wohnte, welche Entschlossenheit, und was für ein Gedächtnis er hatte. Selbst jetzt noch, da er berühmt war in aller Herren Länder und da niemand die Wissenschaften studieren konnte, ohne die Werke von Athanasius Kircher zu kennen, konnte er Rom nicht
verlassen, ohne es zu erleben: Kaum begegnete er Landsleuten, wurde er mit den altgewohnt abschätzigen Blicken gemessen. Was für ein Fehler, sich auf diese Reise gemacht zu haben! Man sollte an einem Ort bleiben, sollte arbeiten, seine Kräfte bündeln und hinter den Büchern verschwinden. Eine Autorität musste man sein, die keinen Körper hatte - eine Stimme, auf die die Welt hörte, ohne sich zu fragen, wie der Leib aussah, aus dem sie kam.
Er hatte wieder mal einer Schwäche nachgegeben. Eigentlich war es ihm gar nicht so sehr um die Pest gegangen, er hatte vor allem einen Grund gebraucht, den Drachen zu suchen. Sie sind die ältesten und klügsten Wesen, hatte Tesimond gesagt, und wenn du vor einem von ihnen stehst, so wirst du ein anderer sein, ja wenn du seine Stimme hörst, ist nichts mehr wie zuvor. So viel hatte Kircher über die Welt herausgefunden, aber ein Drache fehlte noch, ohne einen Drachen war sein Werk nicht vollständig, und wenn es wirklich gefährlich werden sollte, konnte er immer noch die letzte und stärkste Abwehr anwenden - jenen Zauber, auf den man nur einmal im Leben zurückgreifen durfte: Wenn die Gefahr am größten ist, hatte ihm Tesimond eingeschärft, wenn der Drache vor dir steht und nichts mehr hilft, kannst du es einmal, nur einmal, ein einziges Mal nur, also, überleg dir gut, nur einmal, tun. Erst stellst du dir das stärkste der magischen Quadrate vor.
Das ist das älteste von allen, das geheimste, das die meiste Kraft birgt. Du musst es vor dir sehen, schließ die Augen, sieh es deutlich und sprich es mit geschlossenen Lippen, ohne Stimme, Buchstabe für Buchstabe und dann sagst du laut und so deutlich, dass der Drache dich hört, eine Wahrheit, die du noch nie gestanden hast, nicht deinem engsten Freund, nicht einmal in der Beichte. Das ist das Wichtigste: dass sie noch nie ausgesprochen worden ist. Dann wird Nebel aufziehen, und du kannst fliehen. Schwäche erfasst die Glieder des Monstrums, träges Vergessen seinen Verstand, und du kannst davonlaufen, bevor es dich packen kann. Kommt es wieder zu sich, erinnert es sich nicht an dich. Aber vergiss nicht, du kannst es nur einmal tun!
Kircher betrachtete seine Fingerspitzen. Sollte die Musik den Drachen nicht besänftigen, so war er entschlossen, zu diesem letzten Mittel zu greifen und auf einem der Kutschpferde zu fliehen. Der Drache würde dann vermutlich die Sekretäre fressen - es wäre schade um sie, besonders um Guglielmo, der sehr gelehrig war - und die beiden Deutschen wohl auch. Aber er selbst würde entkommen, dank der Wissenschaft, er brauchte nichts zu fürchten.
Das hier würde seine letzte Reise sein. Noch einmal würde er es sich nicht zumuten, er eignete sich einfach nicht für solche
Strapazen. Ihm war unterwegs ständig übel, das Essen war scheußlich, immer war es kalt, und man durfte auch die Gefahren nicht unterschätzen: Zwar hatte der Krieg sich nach Süden zurückgezogen, aber das hieß nicht, dass es hier oben angenehm zuging. Wie verwüstet alles war, wie heruntergekommen die Menschen! Freilich, er hatte in Hamburg einige Bücher gefunden, nach denen er lange gesucht hatte - Hartmut Elias Warnicks Organicon, eine Ausgabe der Melusina mineralia von Gottfried vom Rosenstein und ein paar handgeschriebene Blätter, die möglicherweise von Simon von Turin stammten -, aber auch das war kein Trost für den Umstand, dass er schon seit Wochen auf sein Laboratorium verzichten musste, in dem alles überschaubar war, während überall sonst Chaos herrschte.