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Warum zeigte Gottes Schöpfung sich so widerspenstig, woher ihre hartnäckige Tendenz zu Wirrnis und Widerhaken? Was dem Geist klar war, erwies sich dort draußen als Gestrüpp. Früh hatte Kircher begriffen, dass man dem Verstand folgen musste, ohne sich von den Marotten der Wirklichkeit verunsichern zu lassen. Wenn man wusste, wie ein Versuch auszugehen hatte, dann hatte der Versuch so auszugehen, und wenn man eine distinkte Vorstellung von den Dingen besaß, dann musste man, wenn man sie beschrieb, dieser Vorstellung Genüge tun und nicht dem Augenschein.

Nur weil er gelernt hatte, ganz dem Geist Gottes zu vertrauen, hatte er sein größtes Werk vollbringen können, die Entzifferung der Hieroglyphen. Mit der alten Zeichentafel, die

Kardinal Bembo einst gekauft hatte, war er dem Rätsel auf den Grund gegangen: Er hatte sich so tief in die kleinen Bilder versenkt, bis er verstanden hatte. Kombinierte man einen Wolf und eine Schlange, so musste es Gefahr bedeuten, war aber eine gepunktete Welle darunter, so kam Gott dazu und beschützte die, die seinen Schutz verdienten, und diese drei Zeichen nebeneinander bedeuteten Gnade, und Kircher war auf die Knie gefallen und hatte dem Himmel für solche Eingebung gedankt. Das nach links gedrehte Oval stand fürs Gericht, und war eine Sonne dabei, so war es der Tag des Gerichts, war da aber ein Mond, so bedeutete das die Qual des nächtlich betenden Mannes und daher die Seele des Sünders und manchmal auch die Hölle. Das kleine Männchen hieß wohl Mensch, hatte dieser Mensch aber eine Stange bei sich, so war es der arbeitende Mensch oder die Arbeit, und die Zeichen dahinter besagten, woran er arbeitete: Waren da Punkte, so war er ein Sämann, waren da Striche, war er ein Schiffer, und waren da Kreise, so war er ein Priester, und weil Priester auch schrieben, konnte er genauso gut ein Schreiber sein, das hing davon ab, ob er sich am Anfang oder am Ende der Zeile befand, denn der Priester war stets am Anfang, der Schreiber kam nach den Ereignissen, die er zu Buche nahm. Ekstatische Wochen waren das gewesen, bald hatte er die Tafel nicht mehr gebraucht; er hatte in Hieroglyphen geschrieben, als hätte er nie etwas anderes getan. Nachts hatte er nicht mehr schlafen können, weil er in Zeichen träumte, seine Gedanken bestanden aus Strichen und Punkten und Ecken und Wellen. So war es, wenn man die Gnade spürte. Sein Buch, das er in Kürze unter dem Titel Oedipus aegyptianus würde drucken lassen, war die größte seiner Leistungen: Tausende Jahre waren die Menschen ratlos vor dem Geheimnis gestanden, keiner hatte es lösen können. Nun war es gelöst.

Ärgerlich nur, dass die Leute so begriffsstutzig waren. Er bekam Briefe von Mitbrüdern aus dem Orient, die ihm von Zeichenfolgen berichteten, die sich nicht der von ihm beschriebenen Ordnung fügten, und er musste ihnen zurückschreiben, dass es keine Rolle spiele, was irgendein Tölpel vor zehntausend Jahren in Stein geritzt habe, irgendein kleiner Schreiber, der doch weniger über diese Schrift wusste als eine Autorität wie er - wozu also sich mit dessen Fehlern befassen? Hatte jener kleine Schreiber denn einen Dankbrief von Cäsar bekommen? Kircher aber konnte einen vorweisen. Er hatte dem Kaiser einen Lobgesang in Hieroglyphen übersendet; das Dankesschreiben aus Wien, gefaltet und eingenäht in einen Beutel aus Seide, trug er stets bei sich. Unwillkürlich legte er die Hand auf die Brust, spürte durch sein Wams das Pergament und fühlte sich gleich etwas besser.

Die Kutschen hatten gehalten.

«Ist Euch nicht gut?», fragte Olearius. «Ihr seid blass.»

«Mir geht es vortrefflich», sagte Kircher gereizt.

Er stieß die Tür auf und stieg aus. Der Schweiß der Pferde dampfte. Auch die Wiese war feucht. Er blinzelte und stützte sich gegen die Kutsche, ihm war schwindlig.

«Große Männer», sagte eine Stimme. «Hier bei uns!»

Drüben bei den Zelten waren Leute, und etwas näher saß die Alte vor dem Waschbottich, aber direkt neben ihnen stand nur ein Esel. Das Tier blickte auf, senkte wieder den Kopf und zupfte Halme aus.

«Habt Ihr das auch gehört?», fragte Fleming.

Olearius, der hinter ihm ausgestiegen war, nickte.

«Ich bin's», sagte der Esel.

«Dafür gibt es eine Erklärung», sagte Kircher.

«Und welche ist das?», fragte der Esel.

«Bauchrednerkunst», sagte Kircher.

«Stimmt», sagte der Esel. «Ich bin Origenes.»

«Wo versteckt sich der Bauchredner?», fragte Olearius.

«Schläft», sagte der Esel.

Hinter ihnen waren Fleming und der Sekretär ausgestiegen. Die anderen Sekretäre folgten.

«Das ist wirklich nicht schlecht», sagte Fleming.

«Er schläft selten», sagte der Esel. «Aber jetzt träumt er von euch.» Seine Stimme klang tief und so merkwürdig, als käme sie nicht aus einer Menschenkehle. «Wollt ihr die Vorstellung sehen? Übermorgen ist wieder eine. Wir haben einen Feueresser und einen Handgeher und einen Münzschlucker, der bin ich. Gebt mir Münzen, ich schluck sie. Wollt ihr sehen? Alle schluck ich. Wir haben eine Tänzerin und eine Schauspielprinzipalin, und wir haben eine Jungfrau, die wird begraben und bleibt eine Stunde drunten, und wenn man sie ausgräbt, ist sie frisch und nicht erstickt. Und eine Tänzerin haben wir, hab ich schon gesagt? Die Prinzipalin und die

Tänzerin und die Jungfrau sind dieselbe. Und den besten Seilgänger haben wir, der ist unser Prinzipal. Aber er schläft grad. Wir haben auch einen Verwachsenen, wenn ihr den anseht, wird euch gleich anders zumute. Man weiß kaum, wo sein Kopf ist, und seine Arme findet er selbst nicht.»

«Und einen Bauchredner habt ihr», sagte Olearius.

«Du bist ein ganz schlauer Mann», sagte der Esel.

«Habt ihr Musiker?», fragte Kircher, der sich des Umstands bewusst war, dass sein Ruf Schaden nehmen könnte, wenn er sich vor Zeugen mit einem Esel unterhielt.

«Freilich», sagte der Esel. «Halbes Dutzend. Der Prinzipal und die Prinzipalin tanzen, das ist der Höhepunkt, der Gipfel unserer Darbietung, wie geht das ohne Musiker?»

«Das genügt», sagte Kircher. «Der Bauchredner soll sich jetzt zeigen!»

«Bin hier», sagte der Esel.

Kircher schloss die Augen, atmete tief aus, atmete ein. Ein Fehler, dachte er, die ganze Reise, der Besuch hier, alles ein Fehler. Er dachte an die Ruhe seines Studierzimmers, an seinen steinernen Arbeitstisch, an die Bücher in den Regalen, er dachte an den geschälten Apfel, den ihm sein Gehilfe jeden Nachmittag zum dritten Stundenschlag brachte, an den Rotwein in seinem liebsten venezianischen Kristallglas. Er rieb sich die Augen und wandte sich ab.

«Brauchst einen Bader?», fragte der Esel. «Wir verkaufen auch Medizin. Musst nur sagen.»

Es ist bloß ein Esel, dachte Kircher. Aber vor Wut ballten sich

seine Fäuste. Jetzt verspotteten einen schon die deutschen Tiere! «Regelt Ihr das», sagte er zu Olearius. «Sprecht mit diesen Leuten.»

Olearius sah ihn erstaunt an.

Da stieg Kircher schon über einen Haufen Eselsdung zurück in die Kutsche, ohne ihn weiter zu beachten. Er schloss die Tür und zog die Vorhänge zu. Draußen hörte er Olearius und Fleming mit dem Esel reden - bestimmt lachten sie jetzt über ihn, alle, aber es interessierte ihn nicht. Er wollte das gar nicht wissen. Um sein Gemüt zu beruhigen, versuchte er, in ägyptischen Zeichen zu denken.

Die Alte beim Waschbottich sah Olearius und Fleming entgegen, als sie auf sie zugingen, dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Sofort kamen drei Männer und eine Frau aus einem der Zelte. Die Männer waren ungewöhnlich stämmig, die Frau hatte braune Haare, und sie war nicht mehr ganz jung, aber ihre Augen waren hell und kraftvoll.