«Hohe Herren bei uns», sagte die Frau. «So eine Ehre haben wir nicht oft. Wollt Ihr unsere Vorstellung sehen?»
Olearius versuchte zu antworten, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht.
«Mein Bruder ist der beste Seiltänzer, er war Hofnarr beim Winterkönig. Wollt Ihr ihn sehen?»
Olearius' Stimme versagte immer noch.
«Redet Ihr nicht?»
Olearius räusperte sich. Er wusste, dass er sich lächerlich machte, aber da half nichts, er konnte nicht sprechen.
«Freilich wollen wir was sehen», sagte Fleming.
«Schaut, unsere Akrobaten», sagte die Frau. «Zeigt den wohlgeborenen Herren was!»
Sofort fiel einer der drei vornüber und stand auf den Händen. Der Zweite kletterte mit unmenschlicher Geschwindigkeit an ihm empor und machte einen Handstand auf den Füßen des Ersten, und jetzt kletterte auch der Dritte an ihnen beiden hinauf, aber er blieb auf den Füßen des Zweiten aufrecht stehen, die Arme weit in den Himmel gereckt, und da, ehe man sich's versah, kletterte auch die Frau hinauf, und der Dritte zog sie zu sich und hob sie über seinen Kopf. Olearius starrte nach oben, da schwebte sie über ihm, in der Höhe.
«Wollt Ihr mehr sehen?», rief sie herunter.
«Würden wir gern», sagte Fleming, «aber deshalb sind wir nicht hier. Wir brauchen Musiker, wir bezahlen gut.»
«Euer Herr Begleiter wohlgeboren ist stumm?»
«Nein», sagte Olearius, «nicht nein. Nicht stumm, meine ich.»
Sie lachte. «Ich bin Nele!»
«Ich bin Magister Fleming.»
«Olearius», sagte Olearius. «Hofmathematikus in Gottorf.»
«Kommst du wieder runter?», rief Fleming. «So redet es sich schwer!»
Wie auf Kommando zerfiel der Menschenturm. Der Mann in der Mitte sprang, der Mann ganz oben rollte vornüber ab, der
Mann ganz unten machte einen Purzelbaum, die Frau schien zu fallen, aber irgendwie ordnete sich das Gewirr im Flug, und sie kamen alle auf den Füßen auf und standen aufrecht da. Fleming klatschte in die Hände, Olearius stand starr.
«Nicht klatschen», sagte Nele, «das war kein Auftritt. Wär das ein Auftritt gewesen, müsstet Ihr zahlen.»
«Wir möchten auch zahlen», sagte Olearius. «Für deine Musiker.»
«Da müsst Ihr sie selber fragen. Alle, die bei uns sind, sind frei. Wenn sie mit euch gehen wollen, dann sollen sie gehen. Wenn sie mit uns weiterziehen wollen, ziehen sie mit uns. In Ulenspiegels Zirkus ist jeder nur dann, wenn er in Ulenspiegels Zirkus sein will, weil es keinen besseren Zirkus gibt. Sogar der Verwachsene ist freiwillig hier, anderswo hätt er's nicht so gut.»
«Tyll Ulenspiegel ist hier?», fragte Fleming.
«Wegen ihm kommen die Leute von überall», sagte einer der Akrobaten. «Ich würd nicht wegwollen. Aber fragt die Musiker.»
«Wir haben einen Flötisten und einen Trompeter und einen Trommler und einen Mann, der zwei Geigen zugleich spielt. Fragt sie, und wenn sie gehen wollen, scheiden wir als Freunde und finden andere Musiker, das wird nicht schwer, bei Ulenspiegels Zirkus will jeder mitmachen.»
«Tyll Ulenspiegel?», fragte Fleming wieder.
«Kein anderer.»
«Und du bist seine Schwester?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Aber du hast gesagt -»
«Ich weiß, was ich gesagt hab, gnädiger Herr. Er ist wohl mein Bruder, aber ich bin nicht seine Schwester.»
«Wie geht das?», fragte Olearius.
«Da wundert Ihr Euch, gnädiger Herr!»
Sie sah ihm ins Gesicht; ihre Augen blitzten, der Wind spielte in ihren Haaren. Olearius hatte einen trockenen Hals, und seine Glieder kamen ihm so schwach vor, als hätte er sich unterwegs eine Krankheit eingefangen.
«Das versteht Ihr nicht, gelt?» Sie stieß einen der Akrobaten vor die Brust und sagte: «Holst du die Musiker?»
Der nickte, warf sich vornüber und ging auf den Händen davon.
«Eine Frage.» Fleming zeigte zu dem Esel hinüber, der ruhig Gras zupfte und dann und wann den Kopf hob und mit glanzlosen Tieraugen zu ihnen sah. «Wer hat dem Esel -»
«Bauchrednerei.»
«Aber wo versteckt sich der Bauchredner?»
«Frag den Esel», sagte die Alte.
«Wer bist denn du?», fragte Fleming. «Bist du ihre Mutter?»
«Da sei Gott vor», sagte die Alte. «Ich bin nur die Alte. Bin von niemandem Mutter, von keinem die Tochter.»
«Von irgendwem wirst du schon Tochter sein.»
«Und wenn alle Leute, von denen ich Tochter war, schon unterm Gras liegen, von wem bin ich dann die Tochter? Ich bin die Else Kornfass aus Stangenriet. Ich saß vor meinem Haus und grub mein Gärtchen und dachte nichts, da kamen der Ulenspiegel und sie, die Nele, und der Origenes mit dem Karren, und ich hab gerufen, Gott zum Gruß, Tyll, weil ich ihn erkannt hab, jeder erkennt ihn, und er zieht plötzlich an den Zügeln, dass der Wagen steht, und sagt: Grüß nicht Gott, der braucht dich nicht, sondern komm. Ich wusste nicht, was er will, und ich sagte ihm noch: Mit alten Frauen treibt man keinen Scherz, erstens sind die arm und schwach, und zweitens können sie dich verhexen, dass du krank wirst, aber er sagt: Du gehörst nicht hierher. Du bist eine von uns. Und ich: Das wär ich mal gewesen, das kann schon sein, aber jetzt bin ich alt! Drauf er: Alt sind wir alle. Und ich: Aber ich fall bald tot um. Und er: Wie wir alle. Und ich: Wenn ich euch am Weg umfalle, was macht ihr? Drauf er: Dann lassen wir dich liegen, denn wer tot ist, ist nicht mehr mein Freund. Drauf hab ich nichts mehr zu sagen gewusst, gnädiger Herr, und drum bin ich hier.»
«Frisst uns die Haare vom Kopf», sagte Nele. «Arbeitet wenig, schläft viel, hat immer eine Meinung.»
«Stimmt alles», sagte die Alte.
«Aber sie kann sich was merken», sagte Nele. «Sie spricht die längsten Balladen, vergisst nie eine Zeile.»
«Deutsche Balladen?», fragte Fleming.
«Freilich», sagte die Alte. «Hab Spanisch nie gelernt.»
«Lass hören», sagte Fleming.
«Wenn Ihr zahlt, lass ich was hören.»
Fleming kramte in der Tasche. Olearius blickte zum Seil empor, für einen Moment hatte er gemeint, dort oben
jemanden zu sehen, aber es schwankte leer im Wind. Der Akrobat kam zurück, ihm folgten drei Männer mit Instrumenten.
«Das wird kosten», sagte der Erste.
«Wir kommen mit», sagte der Zweite, «aber wir wollen Geld.»
«Geld und Gold», sagte der Erste.
«Und viel davon», sagte der Dritte. «Wollt Ihr was hören?»
Und ohne dass Olearius ihnen ein Kommando gegeben hätte, stellten sie sich in Positur und begannen zu spielen. Einer schlug die Laute, ein anderer blies die Backen an der Sackpfeife auf, der Dritte wirbelte zwei Trommelschlägel, und Nele warf die Haare zurück und begann zu tanzen, während die Alte im Rhythmus der Musik eine Ballade rezitierte: Sie sang nicht, sie sprach auf einem Ton, und ihr Rhythmus fügte sich in den der Melodie. Es ging um zwei Liebende, die nicht zueinanderkonnten, weil ein Meer sie trennte, und Fleming hockte sich neben der Alten ins Gras, um nur ja kein Wort zu versäumen.
In der Kutsche hielt Kircher seinen Kopf und fragte sich, wann dieser grausige Lärm endlich aufhören würde. Er hatte das wichtigste Buch über Musik geschrieben, aber gerade deshalb war sein Gehör zu fein, um an solchem Volksgeplärr Gefallen zu finden. Auf einmal kam die Kutsche ihm eng vor, die Bank hart, und diese vulgäre Musik kündete von einer Heiterkeit, an der alle Welt Anteil hatte, nur er nicht.
Er seufzte. Das Sonnenlicht warf dünne, kalte Flammen durch die Vorhangritzen. Für einen Moment schien ihm das, was er sah, eine Ausgeburt seines Kopfwehs und seiner schmerzenden Augen zu sein, dann erst begriff er, dass er sich nicht irrte. Ihm gegenüber saß jemand.
War es jetzt so weit? Er hatte immer gewusst, dass ihm einmal der Satan selbst erscheinen würde, aber seltsamerweise fehlten die Zeichen. Es roch nicht nach Schwefel, der Kerl hatte zwei Menschenfüße, und das Kreuz, das Kircher um den Hals trug, war nicht warm geworden. Der da saß, auch wenn Kircher nicht verstand, wie er so lautlos hatte hereinkommen können, war ein Mensch. Enorm hager war er, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trug ein Wams mit Fellkragen, und seine Füße in spitzen Schuhen hatte er auf die Sitzbank gelegt, was eine grobschlächtige Frechheit war. Kircher wandte sich zur Tür.