Der Mann beugte sich vor, legte ihm mit fast zärtlicher Geste eine Hand auf die Schulter und zog mit der anderen den Riegel zu.
«Ich möcht was fragen», sagte er.
«Ich habe kein Geld», sagte Kircher. «Nicht hier in der Kutsche. Das hat einer der Sekretäre draußen.»
«Das ist schön, dass du hier bist. So lang habe ich gewartet, ich dachte, die Gelegenheit kommt nie, aber du musst wissen: Jede Gelegenheit kommt, das ist das Schöne, jede kommt irgendwann, und ich dachte, als ich dich gesehen hab, jetzt erfahre ich's endlich. Sie sagen, dass du heilen kannst, ich
kann das auch, weißt du? Das Sterbehaus zu Mainz. Voll Pestkranker, das war ein Husten, ein Ächzen, ein Jammern, und ich hab gesagt: Ich hab ein Pulver, ich verkauf es euch, das macht euch gesund, und die armen Schweine riefen voll Hoffnung: Gib es uns, gib uns das Pulver! Ich muss es erst anfertigen, hab ich gesagt, und sie haben gerufen: Mach das Pulver, mach es, mach dein Pulver! Und ich hab gesagt: So leicht ist das nicht, mir fehlt eine Zutat, für die muss einer sterben. Da war es still. Da waren sie erstaunt. Da hat erst mal keiner was gesagt. Und ich hab gerufen: Einen muss ich töten, es tut mir leid, von nichts kommt nichts. Ich bin nämlich auch Alchimist, weißt du! Genau wie du, ich kenn die geheimen Kräfte, und die Heilgeister gehorchen auch mir.»
Er lachte. Kircher starrte ihn an, dann streckte er die Hand nach der Tür aus.
«Tu das nicht», sagte der Mann mit einer Stimme, die Kircher sofort die Hand zurückziehen ließ. «Also, ich hab gesagt, einer muss sterben, und wer das sein soll, bestimme nicht ich, das müsst ihr unter euch ausmachen. Und sie haben gesagt: Wie sollen wir das tun? Und ich hab gesagt: Der am kränksten ist, um den ist es am wenigsten schade, also seht zu, wer noch laufen kann, nehmt eure Krücken, rennt los, und wer als Letzter im Haus ist, den weide ich aus. Und hast du nicht gesehen, gleich war das Haus leer. Drei Tote waren noch drin. Kein Lebender. Seht ihr, hab ich gesagt, ihr könnt gehen, ihr liegt nicht im Sterben, ich hab euch geheilt. Kennst mich gar nicht mehr, Athanasius?»
Kircher starrte ihn an.
«Lang her», sagte der Mann. «Viele Jahre, viel Wind im Gesicht, viel Frost, die Sonne brennt einen, der Hunger brennt auch, da sieht man schon anders aus. Obwohl du doch noch ganz genauso aussiehst mit deinen roten Wangen.»
«Ich weiß, wer du bist», sagte Kircher.
Von draußen dröhnte die Musik. Kircher fragte sich, ob er um Hilfe rufen sollte, aber die Türe war verriegelt. Selbst wenn sie ihn hörten, was unwahrscheinlich war, würden sie die Tür erst aufbrechen müssen, und man mochte sich nicht ausdenken, was der Kerl ihm in dieser Zeit antun konnte.
«Was in dem Buch stand. Er hätt es so gerne gewusst. Sein Leben hätt er dafür gegeben. Und hat es auch. Und hat es doch nie erfahren. Aber ich könnt es jetzt rauskriegen. Ich hab immer gedacht, vielleicht seh ich den jungen Doktor wieder, vielleicht erfahr ich's noch, und hier bist du. Also? Was stand drin in dem lateinischen Buch?»
Kircher begann, lautlos zu beten.
«Es hatte keinen Umschlag, aber Bilder hatte es. Auf einem war eine Grille, auf einem ein Tier, das es nicht gibt, mit zwei Köpfen und Flügeln, oder vielleicht gibt es das ja, was weiß ich. Auf einem war ein Mann in einer Kirche, aber die hatte kein Dach, es waren Säulen drüber, das weiß ich noch, über den Säulen waren andere Säulen. Claus hat es mir gezeigt und gesagt: Schau, das ist die Welt. Ich hab es nicht verstanden, ich glaub, er auch nicht. Aber wenn er es schon nicht wissen konnte, will wenigstens ich es wissen, und du hast dir seine
Sachen angeschaut, und Latein verstehst du auch, also sag es mir - was war das für ein Buch, wer hat es geschrieben, wie heißt es?»
Kirchers Hände zitterten. Der Junge von damals war klar und deutlich in seinem Gedächtnis aufbewahrt, klar und deutlich auch der Müller, dessen krächzende letzte Laute am Galgen er nie vergessen würde, klar und deutlich auch das Geständnis der weinenden Müllerin, aber er hatte in seinem Leben so viele Bücher in Händen gehabt, so viele Seiten durchgeblättert und so viel Gedrucktes gesehen, dass er es nicht mehr auseinanderhalten konnte. Es ging wohl um ein Buch, das der Müller besessen hatte. Aber es half nichts, seine Erinnerung versagte.
«Erinnerst du dich ans Verhör?», fragte der dünne Mann sanft. «Der ältere Mann, der Pater, er hat immer gesagt: Keine Angst, wir tun dir nicht weh, wenn du sagst, was wahr ist.»
«Das hast du ja getan.»
«Und er hat mir auch nicht weh getan, aber er hätte mir weh getan, wär ich nicht weggerannt.»
«Ja», sagte Kircher, «daran hast du gut getan.»
«Ich hab nie erfahren, was aus meiner Mutter geworden ist. Ein paar Leute haben sie fortgehen sehen, aber keiner hat gesehen, dass sie anderswo angekommen ist.»
«Wir haben dich gerettet», sagte Kircher. «Der Teufel hätte auch dich ergriffen, man kann nicht ungeschoren in seiner Nähe leben. Indem du wider deinen Vater gesprochen hast, hat er seine Macht über dich verloren. Dein Vater hat gestanden
und bereut. Gott ist barmherzig.»
«Ich will es ja nur wissen. Das Buch. Das musst du mir sagen. Und lüg nicht, denn das merke ich. Das hat er immer gesagt, dein alter Pater: Lüg nicht, denn das merke ich. Dabei hast du ihn ständig angelogen, und er hat's nicht gemerkt.»
Der Mann beugte sich vor. Seine Nase war jetzt nur eine Handbreit von Kirchers Gesicht entfernt; er schien ihn nicht so sehr anzusehen, als vielmehr an ihm zu riechen. Seine Augen waren halb geschlossen, und Kircher kam es vor, als hörte er ihn schnüffelnd die Luft einziehen.
«Ich weiß es nicht mehr», sagte Kircher.
«Das glaub ich nicht.»
«Ich habe es vergessen.»
«Aber wenn ich es doch nicht glaub.»
Kircher räusperte sich. «Sator», sagte er leise, dann verstummte er. Seine Augen schlossen sich, aber sie zuckten unten den Lidern, als ob er hier- und dorthin blickte, dann öffnete er sie wieder. Eine Träne lief ihm über die Wange. «Du hast recht», sagte er tonlos. «Ich lüge viel. Doktor Tesimond habe ich angelogen, aber das ist nichts. Ich habe auch Seine Heiligkeit angelogen. Und Seine Majestät, den Kaiser. Ich lüge in den Büchern. Ich lüge immer.»
Der Professor sprach noch weiter, mit brüchiger Stimme, aber Tyll konnte ihn nicht verstehen. Eine sonderbare Schwere war über ihn gekommen. Er wischte sich über die Stirn, kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht. Die Sitzbank vor ihm war leer, er war allein in der Kutsche, die Tür stand offen. Gähnend stieg
er aus.
Draußen war dichter Nebel. Schwaden rollten vorbei, die Luft war vollgesogen mit Weiß. Die Musiker hatten zu spielen aufgehört, schemenhafte Gestalten zeichneten sich ab, das waren die Begleiter des Professors, und der Schatten da musste Nele sein. Irgendwo wieherte ein Pferd.
Tyll setzte sich auf den Boden. Der Nebel wurde schon wieder dünner, ein paar Sonnenstrahlen brachen hindurch. Man konnte bereits die Kutschen und ein paar Zelte und die Umrisse der Zuschauerbänke erkennen. Einen Moment später herrschte heller Tag, Feuchtigkeit dampfte vom Gras, der Nebel war fort.
Die Sekretäre sahen einander verwirrt an. Eines der zwei Kutschpferde war nicht mehr da, die Deichsel ragte in die Luft. Während alle sich fragten, wo plötzlich der Nebel hergekommen war, während die Akrobaten Räder schlugen, weil sie es nicht aushielten, das eine Weile nicht zu tun, während der Esel Halme zupfte, während die Alte wieder für Fleming zu rezitieren begann und während Olearius und Nele miteinander sprachen, saß Tyll reglos da, mit schmalen Augen und in den Wind gehobener Nase. Und er stand auch nicht auf, als einer der Sekretäre herankam und zu Olearius sagte, dass Seine Exzellenz Professor Kircher offenbar ohne Abschied weggeritten sei. Er habe nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.