«Den Drachen finden wir nicht ohne ihn», sagte Olearius.
«Sollen wir warten?», fragte der Sekretär. «Vielleicht kommt er zurück.»
Olearius warf einen Blick in Neles Richtung. «Das wäre wohl das Beste.»
«Was ist mit dir los?», fragte Nele, die zu Tyll gegangen war.
Er sah auf. «Ich weiß es nicht.»
«Was ist geschehen?»
«Ich hab's vergessen.»
«Jonglier für uns. Dann wird es wieder gut.»
Tyll stand auf. Er tastete nach dem Beutel, der ihm an der Seite hing, und holte erst einen gelben und dann einen roten und dann einen blauen und dann einen grünen Lederball hervor. Nachlässig begann er, sie in die Luft zu werfen, und er holte noch mehr Bälle hervor, immer noch einen und noch einen, bis es Dutzende zu sein schienen, die über seine ausgebreiteten Hände sprangen. Alle sahen den steigenden, fallenden, steigenden Bällen zu, und sogar die Sekretäre mussten lächeln.
Es war früh am Morgen. Nele hatte eine ganze Weile vor dem Zelt gewartet. Sie hatte nachgedacht, war auf und ab gegangen, hatte gebetet, Gras ausgerissen, still geweint, die Finger geknetet und sich schließlich gefasst.
Jetzt schlüpfte sie ins Zelt. Tyll schlief, doch als sie ihn an der Schulter berührte, war er sofort hellwach.
Sie sagte ihm, dass sie die Nacht mit Herrn Olearius verbracht habe, dem Höfling aus Gottorf, draußen im Feld.
«Ja, und?»
«Diesmal ist es anders.»
«Hat er dir nichts Schönes geschenkt?»
«Doch, hat er.»
«Dann ist es ja wie immer.»
«Er möchte, dass ich mit ihm komme.»
Tyll zog in gespieltem Erstaunen die Brauen hoch.
«Er will mich heiraten.»
«Nein.»
«Doch.»
«Heiraten?»
«Ja.»
«Dich?»
«Mich.»
«Warum?»
«Er meint es ernst. Er wohnt in einem Schloss. Es ist kein schönes Schloss, sagt er, und im Winter ist es kalt, aber er hat genug zu essen und einen Herzog, der für ihn sorgt, und er muss dafür nichts anderes tun als die Kinder vom Herzog unterrichten und manchmal etwas ausrechnen und auf Bücher aufpassen.»
«Laufen die sonst weg, die Bücher?»
«Ich sag ja, er hat es gut.»
Tyll rollte von seinem Strohsack, kam auf die Füße, stand auf. «Dann musst du mit ihm gehen.»
«Ich mag ihn nicht sehr gern, aber er ist ein guter Mensch. Und sehr allein. Seine Frau ist gestorben, da war er in Russland. Ich weiß nicht, wo Russland ist.»
«Bei England.»
«Jetzt sind wir doch nicht nach England gekommen.»
«In England ist es wie hier.»
«Und als er zurückgekommen ist aus Russland, da war sie tot, und Kinder hatten sie nicht, und seither ist er traurig. Er ist noch einigermaßen gesund, das hab ich gemerkt, und ich glaube, dass man ihm glauben kann. So einer kommt nicht noch mal zu mir.»
Tyll setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Draußen hörte man die Alte eine Ballade rezitieren. Offenbar saß Fleming noch immer bei ihr und ließ sie wieder und wieder vortragen, um es sich einzuprägen.
«So einer ist schon besser als ein Steger», sagte sie.
«Wahrscheinlich wird er dich auch nicht schlagen.»
«Kann schon sein», sagte Nele nachdenklich. «Und wenn, schlag ich zurück. Da wird er sich wundern.»
«Sogar Kinder kannst du noch haben.»
«Ich mag Kinder nicht. Und er ist schon alt. Aber er wird dankbar sein, mit Kindern oder ohne.»
Sie schwieg. Der Wind ließ die Zeltplane knattern, und die Alte begann von vorn.
«Ich will eigentlich nicht.»
«Aber du musst.»
«Warum?»
«Weil wir nicht mehr jung sind, Schwester. Und wir werden nicht jünger. Um keinen Tag. Niemand hat es gut, der alt und heimatlos ist. Er wohnt in einem Schloss.»
«Aber wir gehören zusammen.»
«Ja.»
«Vielleicht nimmt er dich auch mit.»
«Das geht nicht. Ich kann nicht im Schloss bleiben. Ich würd's nicht aushalten. Und selbst wenn ich's aushalten würde, sie würden mich da nicht lang haben wollen. Entweder sie jagen mich davon, oder ich brenn das Schloss ab. Das eine oder das andere. Aber es würde dein Schloss sein, also darf ich's nicht abbrennen, also wird das nichts.»
Eine Weile waren sie still.
«Ja, das wird nichts», sagte sie dann.
«Warum will er dich eigentlich?», fragte Tyll. «So schön bist du gar nicht.»
«Gleich hau ich dir auf den Mund.»
Er lachte.
«Ich glaube, er liebt mich.»
«Was?»
«Ich weiß, ich weiß.»
«Liebt dich?»
«So was gibt es.»
Draußen gab der Esel ein Eselsgeräusch von sich, und die Alte begann eine andere Ballade.
«Wenn die Marodeure nicht gewesen wären», sagte Nele. «Damals im Wald.»
«Red nicht davon.»
Sie schwieg.
«Leute wie er nehmen Leute wie dich sonst nicht», sagte er.
«Er muss ein guter Mann sein. Und selbst wenn er kein guter Mann ist - er hat ein Dach überm Kopf, und er hat Münzen im Beutel. Sag ihm, dass du mitkommst, und sag es ihm, bevor er sich's anders überlegt.»
Nele begann zu weinen. Tyll nahm seine Hand von ihrer Schulter und sah sie an. Nach kurzem beruhigte sie sich.
«Kommst mich besuchen?», fragte sie.
«Ich glaub nicht.»
«Warum nicht?»
«Schau, wie soll das gehen. Er wird nicht wollen, dass man ihn dran erinnert, wo er dich gefunden hat. Im Schloss wird es keiner wissen, und du selbst wirst nicht wollen, dass man es weiß. Die Jahre werden vergehen, Schwester, bald ist alles nicht mehr wahr, nur deine Kinder werden sich wundern, dass du so gut tanzen und singen und alles auffangen kannst.»
Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Zögernd schlüpfte sie aus dem Zelt, stand auf und ging zu den Kutschen hinüber, um dem Hofmathematiker mitzuteilen, dass sie sein Angebot annehmen und mit ihm nach Gottorf ziehen werde.
Als sie zurückkam, fand sie Tylls Zelt leer. Blitzschnell war er aufgebrochen und hatte nichts mitgenommen außer den Jonglierbällen, einem langen Seil und dem Esel. Nur Magister Fleming, der ihm draußen auf der Wiese begegnet war, hatte noch mit ihm gesprochen. Aber was Tyll gesagt hatte, wollte er nicht verraten.
Der Zirkus verlief sich in alle Richtungen. Die Musiker zogen
mit den Akrobaten nach Süden, der Feuerschlucker ging mit der Alten nach Westen, die anderen wandten sich nach Nordosten, in der Hoffnung, sich so von Krieg und Hunger zu entfernen. Der Verwachsene fand Aufnahme in der Kuriositätenkammer des Kurfürsten von Bayern. Die Sekretäre erreichten drei Monate später die Stadt Rom, wo Athanasius Kircher sie schon ungeduldig erwartete. Er verließ die Stadt nie mehr, führte Tausende Versuche durch und schrieb Dutzende Bücher, bis er vierzig Jahre später in hohen Ehren starb.
Nele Olearius überlebte Kircher um drei Jahre. Sie bekam Kinder und begrub ihren Gatten, den sie nie geliebt, aber immer geschätzt hatte, weil er sie gut behandelte und nicht mehr von ihr erwartete als etwas Freundlichkeit. Vor ihren Augen erblühte Schloss Gottorf zu neuem Glanz, sie sah ihre Enkel heranwachsen und wiegte noch den ersten Urenkel auf ihrem Schoß. Keiner ahnte, dass sie einst mit Tyll Ulenspiegel durchs Land gezogen war, aber genau wie der vorhergesagt hatte, wunderten sich ihre Enkel darüber, dass sie selbst als alte Frau noch alles fangen konnte, was man ihr zuwarf. Beliebt und angesehen war sie, keiner hätte vermutet, dass sie einmal etwas anderes gewesen war als eine ehrbare Frau. Und sie erzählte auch keinem, dass sie immer noch die Hoffnung hatte, der Junge, mit dem sie einst aus dem Dorf ihrer Eltern aufgebrochen war, würde wiederkommen und sie mitnehmen.
Erst als der Tod nach ihr griff und mit ihm die Verwirrung der letzten Tage, war ihr plötzlich, als ob sie ihn sehen könnte.
Dünn und lächelnd stand er am Fenster, dünn und lächelnd kam er in ihr Zimmer, und lächelnd setzte sie sich auf und sagte: «Das hat ja gedauert!»
Und der Herzog von Gottorf, ein Sohn jenes Herzogs, der ihren Mann damals angestellt hatte, war an ihr Sterbebett gekommen, um vom ältesten Mitglied seines Haushalts Abschied zu nehmen. Er begriff, dass jetzt nicht der Moment war, Irrtümer zu berichtigen, nahm die starre kleine Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und sein Instinkt gab ihm die Antwort ein: «Ja, aber jetzt bin ich hier.»