Im selben Jahr starb in der Holsteinischen Ebene der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.
Also bettete er den Kopf ins Heidekraut, legte den Körper, der sich so vollständig seinem Untergrund anpasste, dass selbst Adler ihn nicht hätten ausmachen können, flach in die Weichheit der Gräser, seufzte und bedauerte kurz, dass es nun vorbei war mit Duft und Blumen und Wind und dass er die Wolken im Sturm nicht mehr sehen würde, nicht den Aufgang der Sonne und nicht die Kurve des Erdschattens auf dem kupferblauen Mond, der ihn immer besonders erfreut hatte.
Er schloss seine vier Augen und brummte noch leise, als er spürte, dass ein Spatz sich auf seine Nase setzte. Es war ihm alles recht, denn er hatte so viel gesehen, aber was mit einem wie ihm nach dem Tod geschehen würde, wusste er noch immer nicht. Seufzend schlief er ein. Sein Leben hatte lang
gedauert. Nun war es Zeit, sich zu verwandeln.
Im Schacht
«Gott, Allmächtiger, Herr Jesu Christ, steh uns bei», hat der Matthias vorhin noch gesagt, und der Korff hat geantwortet: «Aber Gott ist hier nicht!», und der Eisenkurt hat gesagt: «Gott ist überall, du Schwein», und der Matthias hat gesagt: «Hier unten nicht», und dann haben alle gelacht, doch dann hat es einen Knall gegeben und einen Luftstoß so scharf und heiß, dass er sie zu Boden geworfen hat. Tyll ist auf den Korff gefallen, der Matthias auf den Eisenkurt, und dann ist es stockdunkel gewesen. Eine Weile hat sich keiner gerührt, alle haben die Luft angehalten, jeder hat nachgedacht, ob er gestorben ist, und allmählich erst haben alle begriffen, weil man so was einfach nie gleich begreift, dass der Schacht eingestürzt ist. Sie wissen, dass sie kein Geräusch machen dürfen, denn wenn die Schweden durchgebrochen sind, wenn die im Dunkeln über ihnen stehen, die Messer blank, dann keinen Mucks, nicht den allerkleinsten, nicht atmen, nur kein Schnüffeln, kein Keuchen, kein Husten.
Dunkel ist es. Aber anders dunkel als droben. Wenn es dunkel ist, sieht man ja sonst immer noch etwas. Man weiß nicht recht, was man sieht, aber da ist nicht nichts; du bewegst den Kopf, das Dunkel ist nicht überall gleich, und wenn du dich daran gewöhnt hast, entstehen Umrisse. Hier aber nicht. Das
Dunkel bleibt. Zeit vergeht, und als mehr Zeit vergangen ist und sie schon nicht mehr die Luft anhalten können und vorsichtig wieder Atemzüge machen, ist es immer noch so dunkel, als hätte Gott alles Licht der Welt ausgelöscht.
Schließlich, weil wohl doch keine Schweden mit Messern über ihnen stehen, sagt der Korff: «Meldung machen!»
Und der Matthias: «Seit wann bist du der Chef, du versoffenes Vieh?»
Und der Korff: «Du Drecksloch, der Leutnant ist gestern krepiert, jetzt hab ich Anciennität.»
Drauf der Matthias: «Ja, oben vielleicht, aber nicht hier.»
Drauf der Korff: «Ich bring dich um, wenn du jetzt nicht Meldung machst. Ich muss wissen, wer noch lebt.»
Drauf Tylclass="underline" «Ich glaube, ich leb noch.»
Die Wahrheit ist, dass er sich nicht sicher ist. Wenn man flach liegt und alles schwarz ist, wie soll man das wissen. Aber jetzt, da er seine Stimme gehört hat, merkt er, dass es stimmt.
«Dann geh von mir runter», sagt der Korff. «Du liegst auf mir, du Gerippe!»
Wo er recht hat, hat er recht, denkt Tyll, es ist wirklich nicht so gut, hier auf dem Korff zu liegen. Also rollt er sich zur Seite.
«Matthias, du machst jetzt auch Meldung», sagt der Korff.
«Dann mach ich halt Meldung.»
«Kurt?»
Sie warten, aber der Eisenkurt, den sie alle so nennen wegen seiner eisernen rechten Hand, oder vielleicht ist es auch die linke gewesen, so genau erinnert sich keiner, es ist dunkel,
man kann nicht nachsehen, macht keine Meldung.
«Kurt?»
Still ist es, jetzt sind nicht mal mehr die Explosionen zu hören. Eben hat man sie noch gehört, ferne Donnerschläge von droben, die die Steine zittern ließen; das waren die Schweden vom Torstensson, die versuchen, die Bastionen zu sprengen. Aber jetzt hört man nur Atmen. Tyll hört man atmen, und den Korff hört man und den Matthias, aber den Kurt hört man nicht.
«Bist du tot?», ruft der Korff. «Kurt, bist verreckt?»
Aber der Kurt sagt noch immer nichts, was überhaupt nicht seine Art ist, sonst kann man ihn kaum zum Schweigen bringen. Tyll hört den Matthias tasten. Er fühlt wohl nach dem Hals vom Kurt, des Herzschlags wegen, dann nach der Hand - erst der eisernen, dann der echten. Tyll muss husten. Staubig ist es, kein Durchzug mehr, die Luft fühlt sich an wie dicke Butter.
«Doch, der ist tot», sagt der Matthias schließlich.
«Sicher?», fragt der Korff. Man hört ihm an der Stimme an, wie es ihn fuchst - jetzt hat er seit gestern Anciennität, weil es den Leutnant erwischt hat, und schon sind da nur noch zwei Untergebene.
«Er atmet nicht», sagt der Matthias, «und sein Herz schlägt nicht, und reden will er auch nicht, und hier, du kannst es fühlen, die Hälfte vom Kopf ist weg.»
«Scheißdreck», sagt der Korff.
«Ja», sagt der Matthias, «eine Scheiße ist das schon. Obwohl,
schau, gemocht hab ich ihn nicht. Gestern hat er mein Messer genommen, und als ich gesagt hab, gib's zurück, hat er gesagt, gern, aber nur zwischen deine Rippen. Geschieht ihm recht.»
«Ja, geschieht ihm recht», sagt der Korff, «Gott sei seiner Seele gnädig.»
«Die kommt hier nicht raus», sagt Tyll. «Seine Seele, wie soll die hier rausfinden?»
Eine Weile schweigen sie beklommen, weil alle daran denken, dass die Seele vom Kurt noch hier sein könnte, kalt und glitschig und wahrscheinlich wütend. Dann ist ein Scharren zu hören, ein Schieben, ein Wetzen.
«Was machst du da?», fragt der Korff.
«Ich such mein Messer», sagt der Matthias. «Ich lass das der Sau nicht.»
Tyll muss wieder husten. Dann fragt er: «Was ist geschehen? Ich bin ja nicht lang dabei, warum ist es dunkel?»
«Weil keine Sonne durchkommt», sagt der Korff. «Zu viel Erde zwischen ihr und uns.»
Geschieht mir recht, denkt Tyll, soll er spotten, das ist wirklich keine schlaue Frage gewesen. Und um etwas Besseres zu fragen, sagt er: «Müssen wir sterben?»
«Ja freilich», sagt der Korff. «Wir und jeder andere.»
Auch da hat er recht, denkt Tyll, obwohl, wer weiß, ich zum Beispiel bin bisher nie gestorben. Dann, denn das Dunkel kann einen sehr verwirren, versucht er, sich zu erinnern, wie es ihn in den Schacht verschlagen hat.
Zunächst einmal, weil er nach Brünn gekommen ist. Er hätte
anderswohin gehen können, aber nachher weiß man es immer besser, und nach Brünn ist er gekommen, weil es geheißen hat, die Stadt wäre reich und sicher. Und es hat doch keiner geahnt, dass der Torstensson mit der halben Schwedenarmee hierherzieht, es hat immer geheißen, er wird nach Wien gehen, wo der Kaiser hockt, nur weiß man eben nicht, was die Herren sich so denken unter ihren großen Hüten.
Und dann ist es wegen dem Stadtkommandanten gewesen, mit seinen buschigen Brauen, dem Spitzbärtchen, den schmalzglänzenden Backen und diesem Stolz in jedem gespreizten Fingerchen. Auf dem Hauptplatz hat er Tyll zugesehen, mit Mühe anscheinend, weil seine Lider so adlig tief hängen und weil einer wie er wohl glaubt, dass er einen besseren Anblick verdient hätte als einen Narren im gescheckten Wams.
«Kannst nichts Besseres zeigen?», hat er gebrummt.
Oft passiert es ja nicht, dass Tyll sich ärgert, aber wenn es passiert, dann ist er besser im Beleidigen als jeder, dann sagt er etwas, was so einer nie vergessen wird. Was war es eigentlich? Die Dunkelheit bringt einem wirklich das Gedächtnis durcheinander. Das Dumme war, dass sie gerade Männer rekrutiert haben, zur Verteidigung der Festung Brünn.