Doch der Jesuit ist nicht hier, Tyll weiß das, nur die zwei Mineure sind hier, und der Pirmin drüben auf dem Waldweg, gerade haben sie ihn liegen gelassen. Bleibt da, ruft der Pirmin, ich find euch, ich tu euch weh! Und das ist ein Fehler, denn da wissen sie, dass sie ihm nicht helfen dürfen, und der Junge läuft noch einmal zurück und holt den Beutel mit den Bällen. Wie am Spieß schreit und wie ein Kutscher flucht der Pirmin da, nicht bloß, weil die Bälle sein Wertvollstes sind, sondern weil er begreift, was es heißt, dass der Junge sie mitnimmt: Ich verwünsch euch, ich find euch, ich geh nicht rüber, ich bleib, um euch zu suchen! Man kriegt Angst, wenn man ihn so liegen sieht, so verdreht in sich, also rennt der Junge und hört ihn noch von weitem und rennt und rennt, Nele neben ihm, und immer noch hören sie ihn, er ist ja selbst schuld, keucht sie, aber der Junge spürt, dass Pirmins Verwünschungen wirken und dass etwas Schlimmes auf sie zukommt, mitten im hellen Vormittag, hilf doch, König, hol
mich heraus, mach es ungeschehen, damals im Wald.
«Na erzähl schon», sagt jemand, Tyll kennt die Stimme, er erinnert sich, es ist der Matthias. «Sag was von Hintern, von Brüsten sag was. Wenn wir schon sterben, wollen wir von Brüsten hören.»
«Wir sterben nicht», sagt der Korff.
«Aber erzähl», sagt der Matthias.
Erzähl, sagt auch der Winterkönig. Was war dort im Wald, erinnere dich, was war?
Aber der Junge sagt es nicht. Ihm nicht und keinem andern und schon gar nicht sich selbst, denn wenn man nicht dran denkt, ist es, als hätte man es vergessen, und hat man es vergessen, ist es nicht passiert.
Erzähl, sagt der Winterkönig.
«Du Zwerg», sagt Tyll, weil er langsam wütend wird. «Du König ohne Land, du Nichts, und außerdem bist du tot. Lass mich, kriech weg.»
«Kriech selbst», sagt der Matthias. «Ich bin nicht tot, der Kurt ist tot. Erzähl!»
Aber der Junge kann das nicht erzählen, er hat es ja vergessen. Den Weg im Wald hat er vergessen, und Nele und sich selbst dort auf dem Weg hat er vergessen, die Stimmen in den Blättern hat er vergessen, geh nicht weiter, aber das war ja auch nicht so, das haben sie nicht geflüstert, die Stimmen, sonst hätten Nele und er doch auf sie gehört, und auf einmal stehen die drei vor ihnen, an die er sich nicht mehr erinnert, er sieht sie nicht mehr, er hat sie vergessen, wie sie da vor ihnen
stehen.
Marodeure. Zerzaust, wütend, ohne zu wissen, worüber. Na so etwas, sagt einer, Kinder!
Und Nele denkt dran, zum Glück. An das, was der Junge ihr gesagt hat: Wir sind sicher, solange wir schneller sind. Wenn du schneller läufst als die anderen, kann dir nichts passieren. Also schlägt sie einen Haken und rennt. Später weiß der Junge nicht mehr, und wie sollte er es auch wissen, denn er hat alles vergessen, warum er nicht auch losgerannt ist; aber so ist es nun mal, ein Fehler reicht - einmal was nicht verstanden, einmal zu lang geglotzt, schon legt er einem die Hand auf die Schulter. Er beugt sich über ihn. Er riecht nach Branntwein und Pilzen. Der Junge will laufen, aber es ist zu spät, die Hand bleibt, wo sie ist, und der andere steht daneben, und der Dritte ist Nele nachgelaufen, aber er kommt schon zurück, keuchend, natürlich hat er sie nicht erwischt.
Der Junge versucht noch, die drei zum Lachen zu bringen. Das hat er ja vom Pirmin gelernt, der eine Stunde von hier liegt und vielleicht noch lebt und sie besser geführt hätte, denn mit ihm sind sie nie Wölfen oder bösen Leuten begegnet, kein einziges Mal in der langen Zeit. Er versucht also, sie zum Lachen zu bringen, aber es geht nicht, sie wollen nicht lachen, sie sind zu wütend, sie haben Schmerzen, einer ist verletzt, der fragt: Hast du Geld? Und ein bisschen Geld hat er ja wirklich und gibt es. Er sagt ihnen, dass er für sie tanzen oder auf Händen gehen oder Bälle werfen könnte, und fast werden sie neugierig, doch dann merken sie, dass man ihn dafür loslassen
müsste, und so dumm, sagt der, der ihn hält, sind wir nicht.
Und da begreift der Junge, dass er nichts tun kann, nur vergessen, was passiert; es vergessen, noch bevor es zu Ende passiert ist: ihre Hände vergessen, die Gesichter, alles. Nicht da sein, wo er jetzt ist, sondern lieber neben Nele, während sie läuft und endlich stehen bleibt und sich an einen Baum lehnt und wieder zu Atem kommt. Dann schleicht sie zurück, mit angehaltenem Atem und darauf bedacht, dass ihr kein Ast knackt unter den Füßen, und sie duckt sich ins Gebüsch, denn die drei kommen und torkeln an ihr vorbei und bemerken sie nicht und sind schon fort; aber sie wartet trotzdem noch eine Weile, bevor sie sich hervortraut und den Weg entlanggeht, den sie eben noch mit dem Jungen gegangen ist. Und sie findet ihn und kniet bei ihm, und beide begreifen, dass sie es vergessen müssen und dass das Bluten aufhören wird, denn einer wie er stirbt nicht. Ich bin aus Luft gemacht, sagt er. Mir passiert nichts. Kein Grund zum Jammern. Alles noch ein Glück. Hätte schlimmer sein können.
Hier im Schacht stecken zum Beispiel, das ist wahrscheinlich schlimmer, denn hier hilft nicht mal das Vergessen. Wenn man den Schacht vergisst, in dem man steckt, ist man immer noch im Schacht.
«Ich geh ins Kloster», sagt Tyll. «Wenn ich hier rauskomme. Ich mein's ernst.»
«Melk?», fragt der Matthias. «Da bin ich mal gewesen. Da ist es herrschaftlich.»
«Andechs. Die haben feste Mauern. Wenn es wo sicher ist, dann in Andechs.»
«Nimmst mich mit?»
Gerne, denkt Tyll. Wenn du uns rausbringst, gehen wir zusammen. Und er sagt: «Dich Galgenvogel lassen sie sicher nicht rein.»
Ihm wird klar, dass das verkehrt herum war, wegen der Dunkelheit. Hab nur Spaß gemacht, denkt er, natürlich lassen sie dich rein. Und er sagt: «Ich kann gut lügen!»
Tyll steht auf. Es ist wohl besser, er hält den Mund. Sein Rücken schmerzt, auf dem linken Bein kann er nicht stehen. Die Füße muss man schützen, man hat ja nur zwei, und wenn man einen davon verletzt, kann man nicht mehr aufs Seil.
«Wir haben zwei Kühe gehalten», sagt der Korff. «Die ältere hat gut Milch gehabt.» Er hat sich wohl auch in eine Erinnerung verstrickt. Tyll kann es vor sich sehen: das Haus, die Wiese, Rauch über dem Schornstein, ein Vater und eine Mutter, alles arm und dreckig, aber eine andere Kindheit hat der Korff nicht gehabt.
Tyll tastet an der Wand entlang. Hier ist der Holzrahmen, den sie vorher eingesetzt haben, oben ist ein Stück abgebrochen, oder ist das unten? Er hört den Korff leise weinen.
«Sie ist weg», jammert der Korff. «Weg, weg! Die ganze gute Milch.»
Tyll ruckelt an einem Felsstück in der Decke, es sitzt locker und löst sich, Steine rieseln.
«Hör auf», ruft der Matthias.
«Das bin ich nicht gewesen», sagt Tyll. «Ich schwör's.»
«Vor Magdeburg hab ich meinen Bruder verloren», sagt der Korff. «Kopfschuss.»
«Ich hab meine Frau verloren», sagt der Matthias. «Bei Braunschweig, sie war mit dem Tross, die Pest hat sie erwischt, die zwei Kinder auch.»
«Wie hat sie geheißen?»
«Johanna», sagt der Matthias. «Die Frau. Von den Kindern die Namen, die weiß ich nicht mehr.»
«Ich hab meine Schwester verloren», sagt Tyll.
Der Korff stolpert herum, Tyll hört ihn neben sich und weicht zurück. Besser, man stößt nicht gegen ihn. So einer wie der Korff hält das nicht aus, wenn man ihn rempelt, der schlägt gleich zu. Wieder eine Explosion, wieder rieseln Steine, lange trägt die Decke nicht mehr.
Wirst sehen, sagt der Pirmin, so schlimm ist Totsein nicht. Du gewöhnst dich.