Da hat der Knecht ihn hoch über den Kopf gehoben. Der Junge befürchtet, dass Sepp ihn auf den harten Boden schleudern wird; er hebt die Hände schützend vor die Stirn. Aber Sepp tritt einen und noch einen und einen dritten Schritt vor, und plötzlich beginnt das Herz des Jungen zu rasen. Das Blut pocht in seinen Ohren, er beginnt zu schreien. Er kann seine Stimme nicht hören, er schreit lauter, er hört sie noch immer nicht. Er hat begriffen, was Sepp vorhat. Begreifen es auch die anderen? Noch könnten sie einschreiten, aber - jetzt nicht mehr. Sepp hat es getan. Der Junge fällt.
Er fällt immer noch. Die Zeit scheint langsamer zu werden, er kann sich noch umsehen, er spürt den Sturz, das Gleiten durch die Luft, und er kann auch noch denken, dass ganz genau das geschieht, wovor er sein Leben lang gewarnt worden ist: Steig nicht vor dem Rad in den Bach, geh niemals vor dem, geh vor dem Mühlrad nicht, auf keinen Fall geh nie, nie, geh nie vor dem Mühlrad in den Bach! Und jetzt, da das gedacht ist, ist der Sturz noch immer nicht vorbei, und er fällt noch immer und fällt und fällt immer noch, aber gerade, als er einen weiteren Gedanken fasst, nämlich dass womöglich gar nichts passieren und der Sturz immer weiter andauern wird, schlägt er klatschend auf und sinkt, und wieder dauert es einen Augenblick, bevor die Eiseskälte zubeißt. Seine Brust schnürt sich zu, vor seinen Augen wird es schwarz.
Er spürt, wie ein Fisch seine Wange streift. Er spürt das Wasser strömen, spürt, wie es schneller und schneller fließt, spürt den Sog zwischen seinen Fingern. Er weiß, dass er sich festhalten müsste, aber woran nur, alles ist in Bewegung, nichts Festes irgendwo, und dann spürt er eine Bewegung über sich, und er muss daran denken, dass er sich das sein Lebtag vorgestellt hat, mit Grauen und Neugier, die Frage, was er tun müsste, wenn er tatsächlich einmal vor dem Mühlrad in den Bach fiele. Nun ist alles anders, und er kann gar nichts tun, und er weiß, dass er gleich tot sein wird, zerdrückt, zerpresst, zermahlen, aber er erinnert sich doch, dass er nicht auftauchen darf, droben ist kein Entkommen, droben ist das Rad. Er muss nach unten.
Aber wo ist das, unten?
Mit aller Kraft macht er Schwimmstöße. Sterben ist nichts,
das begreift er. Es geht so schnell, es ist keine große Sache, mach einen falschen Schritt, einen Sprung, eine Bewegung, und du bist kein Lebender mehr. Ein Grashalm reißt, ein Käfer wird zertreten, eine Flamme geht aus, ein Mensch stirbt, es ist nichts! Seine Hände graben im Schlamm, er hat es auf den Grund geschafft.
Und da weiß er plötzlich, dass er heute nicht sterben wird. Fäden aus langem Gras streicheln ihn, Dreck kommt in seine Nase, er spürt einen kalten Griff am Nacken, hört ein Knirschen, spürt etwas am Rücken, dann an den Fersen; er ist unterm Mühlrad durch.
Er stößt sich vom Boden ab. Während er aufsteigt, sieht er kurz ein bleiches Gesicht, die Augen groß und leer, der Mund offen, es leuchtet schwach in der Wasserdunkelheit, wahrscheinlich der Geist von einem Kind, das irgendwann weniger Glück hatte als er. Er macht Schwimmstöße. Schon ist er an der Luft. Er atmet ein und spuckt Schlamm und hustet und krallt sich im Gras fest und kriecht keuchend ans Ufer.
Ein Fleck bewegt sich auf dünnen Beinchen vor seinem rechten Auge. Er blinzelt. Der Fleck kommt näher. Es kitzelt an seiner Braue, er drückt die Hand ans Gesicht, der Fleck verschwindet. Droben schwebt, rund schillernd, eine Wolke. Jemand beugt sich über ihn. Es ist Claus. Er kniet sich hin, streckt die Hand aus und berührt seine Brust, murmelt etwas, das er nicht versteht, weil der hohe Ton immer noch in der Luft hängt und alles andere übertönt; aber da, während sein Vater spricht, wird der Ton leiser und leiser. Claus steht auf, der Ton
ist verstummt.
Jetzt ist auch Agneta da. Und neben ihr Rosa. Jedes Mal, wenn wieder jemand auftaucht, braucht der Junge einen Augenblick, um das Gesicht zu erkennen, etwas in seinem Kopf ist langsam geworden und arbeitet noch nicht wieder. Sein Vater macht kreisende Handbewegungen. Er fühlt seine Kräfte zurückkehren. Er will sprechen, aber aus seinem Hals kommt nur Krächzen.
Agneta streicht ihm über die Wange. «Zweimal», sagt sie, «bist du jetzt getauft.»
Er versteht nicht, was sie meint. Wahrscheinlich liegt das am Schmerz in seinem Kopf, einem Schmerz so stark, dass er nicht nur ihn, sondern die Welt selbst ausfüllt - alle sichtbaren Dinge, die Erde, die Menschen um ihn, auch die Wolke dort droben, die immer noch weiß ist wie frischer Schnee.
«Na komm ins Haus», sagt Claus. Seine Stimme klingt tadelnd, als hätte er ihn bei etwas Verbotenem ertappt.
Der Junge setzt sich auf, beugt sich vornüber und übergibt sich. Agneta kniet neben ihm und hält seinen Kopf.
Dann sieht er, wie sein Vater weit ausholt und Sepp eine Ohrfeige gibt. Sepps Oberkörper kippt vornüber; er hält sich die Wange und richtet sich wieder auf, da trifft ihn der nächste Schlag. Und dann ein dritter, wieder weit ausgeholt, die Wucht schleudert ihn fast zu Boden. Claus reibt sich die schmerzenden Hände, Sepp torkelt. Dem Jungen ist klar, dass er das nur vorspielt: Es hat ihm nicht sehr weh getan, er ist wesentlich stärker als der Müller. Aber auch er weiß, dass man
dafür bestraft werden muss, wenn man das Kind seines Brotgebers fast tötet, so wie wiederum der Müller und alle anderen wissen, dass man ihn nicht einfach fortjagen kann, Claus braucht drei Knechte, mit weniger geht es nicht, und wenn einer davon ausfällt, kann es Wochen dauern, bis ein neuer Müllersknecht auf Wanderschaft auftaucht - die Bauernknechte wollen nicht in der Mühle arbeiten, sie liegt zu weit vom Dorf, und der Beruf ist ehrlos, nur die Verzweifelten sind dazu bereit.
«Komm ins Haus», sagt nun auch Agneta.
Es ist fast dunkel. Alle haben es eilig, denn keiner will mehr draußen sein. Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreibt.
«Zweimal getauft», sagt Agneta wieder.
Als er sie fragen will, was sie meint, merkt er, dass sie nicht mehr bei ihm ist. Hinter ihm murmelt der Bach, durch den dicken Vorhang des Mühlenfensters dringt etwas Licht nach draußen. Claus muss schon die Talgkerze angezündet haben. Offenbar hat sich keiner die Mühe machen wollen, ihn hineinzuschleppen.
Frierend steht der Junge auf. Überlebt. Er hat überlebt. Das Mühlrad hat er überlebt. Er hat das Mühlrad überlebt. Das Mühlrad. Hat er überlebt. Er fühlt sich unsagbar leicht. Er macht einen Sprung, aber als er aufkommt, gibt sein Bein nach, und er fällt ächzend auf die Knie.
Vom Wald her kommt ein Flüstern. Er hält die Luft an und horcht, nun ist es ein Knurren, nun ein Zischen, dann hört es für einen Moment auf, dann beginnt es von neuem. Ihm ist, als bräuchte er nur besser hinzuhören, und er könnte Worte verstehen. Aber das will er auf keinen Fall. Hastig humpelt er zur Mühle.
Wochen vergehen, bis sein Bein ihm erlaubt, zurück aufs Seil zu gehen. Schon am ersten Tag taucht eine der Bäckerstöchter auf und setzt sich ins Gras. Er kennt sie vom Sehen, ihr Vater kommt oft zur Mühle, denn seit Hanna Krell ihn nach einem Streit verflucht hat, plagt ihn das Rheuma. Die Schmerzen lassen ihn nicht schlafen, deshalb braucht er den Abwehrzauber von Claus.
Der Junge überlegt, ob er sie davonjagen soll. Aber erstens wäre das nicht nett, und zweitens hat er nicht vergessen, dass sie beim letzten Dorffest das Steinewerfen gewonnen hat. Sie muss sehr stark sein, und ihm dagegen tut noch der ganze Körper weh. Also erträgt er ihre Gegenwart. Obwohl er sie nur aus dem Augenwinkel sieht, fällt ihm auf, dass sie Sommersprossen auf den Armen und im Gesicht hat und dass ihre Augen in der Sonne blau sind wie Wasser.
«Dein Vater», sagt sie, «hat zu meinem Vater gesagt, es gibt keine Hölle.»
«Hat er nicht gesagt.» Er schafft vier ganze Schritte, bevor er fällt.
«Doch.»
«Nie», sagt er bestimmt. «Ich schwöre.»
Er ist sich ziemlich sicher, dass sie recht hat. Sein Vater