könnte allerdings auch das Gegenteil gesagt haben: Wir sind in der Hölle, immerdar, und kommen nie heraus. Oder er könnte gesagt haben, dass wir im Himmel sind. Er hat seinen Vater schon alles sagen hören, was man überhaupt sagen kann.
«Weißt du's schon?», fragt sie. «Peter Steger hat beim alten Baum ein Kalb geschlachtet. Der Schmied hat's erzählt. Sie waren zu dritt. Peter Steger, der Schmied und der alte Heinerling. Sie sind nachts zur Weide gegangen und haben das Kalb dort gelassen, für die Kalte.»
«Ich war auch einmal da», sagt er.
Sie lacht. Natürlich glaubt sie ihm nicht, und natürlich hat sie recht, er war nicht da; niemand geht zur Weide, wenn er nicht muss.
«Ich schwör's!», sagt er. «Glaub mir, Nele!»
Er steigt wieder auf das Seil und steht da, ohne sich festzuhalten. Das kann er jetzt. Um den Schwur zu bestärken, legt er sich zwei Finger der rechten Hand aufs Herz. Aber dann nimmt er die Hand schnell wieder fort, denn er erinnert sich daran, dass die kleine Käthe Loser letztes Jahr vor ihren Eltern falsch geschworen hat, und zwei Nächte darauf ist sie gestorben. Um aus der Verlegenheit herauszukommen, tut er so, als verlöre er das Gleichgewicht, und lässt sich der Länge nach ins Gras fallen.
«Mach das weiter», sagt sie ruhig.
«Was?» Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht er auf.
«Das Seil. Etwas können, das kein anderer kann. Das ist gut.»
Er zuckt die Achseln. Ihm ist nicht klar, ob sie sich über ihn lustig macht.
«Muss gehen», sagt sie, springt auf und läuft los.
Während er ihr nachsieht, reibt er sich die schmerzende Schulter. Dann steigt er zurück aufs Seil.
In der Woche darauf müssen sie einen Karren Mehl zum Reutterhof bringen. Martin Reutter hat das Korn vor drei Tagen gebracht, aber er kann das Mehl nicht abholen, ihm ist die Deichsel gebrochen. Sein Knecht Heiner ist gestern gekommen, um Bescheid zu sagen.
Die Lage ist vertrackt. Man kann nicht einfach den Knecht mit dem Mehl losschicken, denn der könnte sich damit auf Nimmerwiedersehen davonmachen, einem Knecht darf man nie über den Weg trauen. Claus aber kann nicht von der Mühle weg, weil es zu viel Arbeit gibt, also muss Agneta mit, und weil die nicht mit Heiner allein im Wald sein sollte, da Knechte zu allem imstande sind, kommt auch der Junge mit.
Sie fahren vor Sonnenaufgang los. Nachts ist viel Regen gefallen. Nebel hängt zwischen den Stämmen, die Wipfel scheinen im noch dunklen Himmel zu verschwinden, die Wiesen sind schwer von Nässe. Der Esel geht schleppend, ihm ist alles eins. Der Junge kennt ihn, so lange er denken kann. Er hat viele Stunden bei ihm im Stall gehockt, hat sich sein leises Schnauben angehört, hat ihn gestreichelt und Freude daran gehabt, wie das Tier ihm seine immerfeuchte Schnauze gegen die Wange gedrückt hat. Agneta hält die Zügel, der Junge sitzt neben ihr auf dem Bock, die Augen halb geschlossen, und schmiegt sich an sie. Hinter ihnen liegt Heiner auf den Mehlsäcken; manchmal grunzt er, und manchmal lacht er vor sich hin, ohne dass man sagen könnte, ob er schläft oder wach ist.
Hätten sie den breiten Weg genommen, könnten sie schon diesen Nachmittag am Ziel sein, aber der führt zu nahe an der Lichtung mit der alten Weide vorbei. Kein Ungeborenes darf in die Nähe der Kalten kommen. Daher müssen sie den Umweg über den schmalen überwachsenen Pfad nehmen, der viel tiefer durch den Wald führt, vorbei am Ahornhügel und dem großen Mäusetümpel.
Agneta erzählt von der Zeit, als sie noch nicht Ulenspiegels Frau gewesen ist. Einer der beiden Söhne von Bäcker Holtz habe sie heiraten wollen. Er habe gedroht, sich den Söldnern anzuschließen, wenn sie ihn nicht nehme. Nach Osten habe er ziehen wollen, in die ungarischen Ebenen, um gegen die Türken zu kämpfen. Und fast hätte sie ihn ja genommen - warum nicht, habe sie gedacht, am Ende sei einer wie der andere. Aber dann sei der Claus ins Dorf gekommen, ein Katholik aus dem Norden, was ja an sich schon seltsam sei, und als sie den geheiratet habe, weil sie ihm nicht habe widerstehen können, sei der junge Holtz doch nicht nach Osten gezogen. Geblieben sei er und habe Brote gebacken, und als zwei Jahre später die Pest durchs Dorf gezogen sei, sei er als Erster gestorben, und als auch sein Vater gestorben sei, habe sein Bruder die Bäckerei übernommen.
Agneta seufzt und streicht dem Jungen über den Kopf. «Du weißt ja nicht, wie er mal war. Jung und rank und ganz anders als die anderen.»
Der Junge braucht einen Moment, um zu verstehen, von wem sie spricht.
«Er hat alles gewusst. Er hat lesen können. Und er war auch schön. Stark war er, und helle Augen hat er gehabt, und er konnte besser singen und tanzen als alle anderen.» Sie überlegt eine Weile. «Er war ... wach!»
Der Junge nickt. Er würde lieber ein Märchen hören.
«Er ist ein guter Mensch», sagt Agneta. «Das darfst du nie vergessen.»
Der Junge muss gähnen.
«Nur ist er im Kopf nie da. Das habe ich damals nicht verstanden. Ich hab ja nicht gewusst, dass es so einen gibt. Wie hätte ich's wissen sollen? Ich bin ja immer hier gewesen. Dass so einer dann auch nie recht bei uns sein kann. Am Anfang war er nur manchmal anderswo im Kopf, meistens war er bei mir, getragen hat er mich, gelacht haben wir, seine Augen waren so hell. Nur manchmal war er bei den Büchern oder bei seinen Versuchen, angezündet hat er etwas oder Pulver gemischt. Dann war er öfter bei den Büchern und seltener bei mir, und dann noch seltener, und jetzt? Du siehst ja. Letzten Monat, als das Mühlrad stehen geblieben ist. Erst nach drei Tagen hat er es repariert, weil er vorher etwas auf der Wiese hat ausprobieren wollen. Keine Zeit hat er gehabt für die Mühle, der Herr Müller. Und dann hat er das Rad auch noch schlecht repariert, und die Achse ist stecken geblieben, und wir haben den Anselm Melker zu Hilfe holen müssen. Aber ihm ist's gleich gewesen!»
«Kann ich ein Märchen hören?»
Agneta nickt. «Vor langer Zeit», beginnt sie. «Als die Steine noch jung gewesen sind und es keine Herzöge gegeben hat und keiner einen Zehnt hat bezahlen müssen. Vor langer Zeit, als selbst im Winter noch kein Schnee gefallen ist ...»
Sie zögert, berührt ihren Bauch und nimmt die Zügel kürzer. Der Weg ist nun schmal und geht über breite Wurzeln hinweg. Ein falscher Schritt des Esels, und der Wagen könnte kippen.
«Vor langer Zeit», beginnt sie von neuem, «hat ein Mädchen einen goldenen Apfel gefunden, den wollte sie mit ihrer Mutter teilen, aber sie hat sich in den Finger geschnitten, und aus ihrem Blutstropfen ist ein Baum gewachsen, der hat mehr Äpfel getragen, allerdings nicht güldene, sondern schrumpelhässlich garstige Äpfel, wer von denen gegessen hat, ist eines schweren Todes gestorben. Denn ihre Mutter ist eine Hexe gewesen, die hat den Goldapfel wie ihren Augenstern gehütet, und jeden Ritter, der gegen sie gezogen ist, um die Tochter zu freien, hat sie zerrissen und gefressen, gelacht hat sie dabei und gefragt: Ist denn kein Held unter euch? Als aber endlich der Winter gekommen ist und alles bedeckt hat mit kühlem Schnee, da hat die arme Tochter für ihre Mutter putzen und kochen müssen, tagaus, tagein und ohne Ende.»
«Schnee?»
Agneta verstummt.
«Du hast gesagt, dass es im Winter keinen Schnee gab.»
Agneta schweigt.
«Entschuldige», sagt der Junge.
«Da hat die arme Tochter für ihre Mutter putzen und kochen müssen, tagaus, tagein und ohne Ende, und das, obgleich sie so schön gewesen ist, dass keiner sie hat ansehen können, ohne sich zu verlieben.»
Agneta schweigt wieder, dann stöhnt sie leise.
«Was ist?»
«Also ist die Tochter im tiefen Winter davongelaufen, denn sie hat gehört, dass es weit, weit, weit weg, am Rand des großen Meers, einen Jungen gibt, der des Goldapfels würdig ist. Aber zuerst hat sie fliehen müssen, und das war schwer, denn die Mutter, die Hexe, war wachsam.»
Agneta verstummt erneut. Der Wald ist nun sehr dicht, nur ganz oben zwischen den Wipfeln blitzt noch hellblauer Himmel. Agneta zieht an den Zügeln, der Esel bleibt stehen. Ein Eichhörnchen springt auf den Weg, sieht sie mit kalten Augen an; dann, schnell wie eine Täuschung, ist es verschwunden. Der Knecht hinter ihnen hört auf zu schnarchen und setzt sich auf.