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«Was ist?», fragt der Junge wieder.

Agneta antwortet nicht. Leichenblass ist sie plötzlich. Und da sieht der Junge, dass ihr Rock voll Blut ist.

Für einen Moment wundert er sich darüber, dass ihm ein so großer Fleck bisher nicht aufgefallen ist, dann versteht er, dass das Blut gerade eben noch nicht da war.

«Es kommt», sagt Agneta. «Ich muss zurück.»

Der Junge starrt sie an.

«Heißes Wasser», sagt sie mit brüchiger Stimme. «Und Claus. Ich brauch heißes Wasser, und den Claus brauch ich auch mit seinen Sprüchen und Kräutern. Und die Hebamme aus dem Dorf brauch ich, die Lise Köllerin.»

Der Junge starrt sie an. Heiner starrt sie an. Der Esel starrt vor sich hin.

«Weil ich sonst sterbe», sagt sie. «Das muss sein. Da kann man nichts machen. Ich kann den Wagen hier nicht umdrehen, der Heiner stützt mich, wir gehen zu Fuß, und du bleibst.»

«Warum fahren wir nicht weiter?»

«Es dauert bis zum Abend, bis wir beim Reutterhof sind, zu Fuß zur Mühle zurück geht es schneller.» Sie steigt keuchend ab. Der Junge will nach ihrem Arm greifen, aber sie schiebt ihn weg. «Hast verstanden?»

«Was?»

Agneta ringt nach Luft. «Einer muss beim Mehl bleiben. Das ist so viel wert wie die halbe Mühle.»

«Allein im Wald?»

Agneta stöhnt.

Heiner blickt dumpf zwischen ihnen hin und her.

«Mit zwei Trotteln bin ich hier.» Agneta legt beide Hände auf die Wangen des Jungen und blickt ihm so fest in die Augen, dass er sein Spiegelbild sehen kann. Ihr Atem pfeift und rasselt. «Verstehst du?», fragt sie leise. «Mein Herz, mein kleiner Junge, verstehst du? Du wartest hier.»

In seiner Brust pocht es so laut, dass er meint, sie müsse es hören können. Er will ihr sagen, dass sie sich das falsch überlegt hat, dass der Schmerz ihre Klarheit trübt. Sie wird es zu Fuß nicht schaffen, es dauert Stunden, sie blutet zu stark. Aber seine Kehle ist ausgetrocknet, die Worte bleiben im Hals stecken. Hilflos sieht er zu, wie sie, an Heiner gelehnt, davonhumpelt. Halb stützt der Knecht sie, halb schleppt er sie, bei jedem Schritt stöhnt sie auf. Eine kurze Zeit sieht er sie noch, dann hört er das Stöhnen leiser werden, und dann ist er allein.

Eine Weile lenkt er sich ab, indem er den Esel an den Ohren zieht. Rechts und links und rechts, jedes Mal gibt das Vieh ein trauriges Geräusch von sich. Warum ist es so geduldig, warum so gutartig, warum beißt es nicht? Er sieht ihm ins rechte Auge. Wie eine Glaskugel liegt es in seiner Höhle, dunkel, wässrig und leer. Es blinzelt nicht, es zuckt bloß ein wenig, als er es mit dem Finger berührt. Er fragt sich, wie es wohl ist, dieser Esel zu sein. Eingesperrt in eine Eselseele, einen Eselkopf auf den Schultern, mit Eselgedanken darin, wie mag sich das anfühlen?

Er hält die Luft an und horcht. Der Wind: Geräusche in Geräuschen hinter anderen Geräuschen, Summen und Rascheln, Quieken, Ächzen und Knarren. Das Wispern der Blätter über dem Wispern von Stimmen, und wieder scheint ihm, als müsste er bloß eine Weile zuhören, dann könnte er verstehen. Er beginnt, vor sich hin zu summen, doch der Klang seiner Stimme kommt ihm fremd vor.

Da fällt ihm auf, dass die Mehlsäcke mit einem Seil verknotet sind; einem langen, das von einem Sack zum nächsten läuft. Erleichtert holt er sein Messer hervor und macht sich daran, Kerben in Stämme zu schneiden.

Sobald er das Seil brusthoch zwischen zwei Bäumen festgezurrt hat, geht es ihm besser. Er prüft die Festigkeit, dann zieht er die Schuhe aus, klettert hinauf und geht mit ausgebreiteten Armen bis zur Mitte. Dort steht er, vor Karren und Esel, über dem lehmigen Weg. Er verliert das Gleichgewicht, springt ab, klettert sofort wieder hinauf. Eine Biene steigt aus den Büschen, sinkt wieder und verschwindet im Grün. Langsam setzt der Junge sich in Bewegung. Fast hätte er es bis ans andere Ende geschafft, aber dann fällt er doch.

Er bleibt eine Weile liegen. Wozu auch aufstehen? Er rollt sich auf den Rücken. Ihm ist, als ob die Zeit stocken würde. Etwas hat sich verändert: Der Wind flüstert weiter, und weiterhin bewegen sich die Blätter, und dem Esel knurrt laut der Magen, aber all das hat nichts mit der Zeit zu tun. Früher war Jetzt, und jetzt ist Jetzt, und in der Zukunft, wenn alles anders ist und wenn es andere Menschen gibt und keiner außer Gott mehr von ihm und Agneta und Claus und der Mühle weiß, dann wird es immer noch Jetzt sein.

Das Himmelsband über ihm ist dunkelblau geworden, nun überzieht es sich mit samtigem Grau. Schatten klettern an Baumstämmen herunter, und auf einmal ist es unten Abend. Das Licht droben gerinnt zu einem schmalen Funkeln. Und dann ist es Nacht.

Er weint. Aber weil keiner da ist, der helfen könnte, und weil man eigentlich immer nur eine kurze Weile weinen kann, bevor einem die Kraft und die Tränen ausgehen, hört er schließlich wieder auf.

Er hat Durst. Agneta und Heiner haben den Schlauch mit dem Bier mitgenommen, Heiner hat ihn umgeschnallt, keiner hat daran gedacht, ihm etwas zu trinken hierzulassen. Seine Lippen sind trocken. Es müsste in der Nähe einen Bach geben, aber wie soll er den finden?

Die Geräusche sind nun andere als am Tag: Andere Tierlaute, ein anderer Wind, auch die Äste knacken anders. Er horcht. Droben muss es sicherer sein. Er macht sich daran, einen Baum zu besteigen. Aber das ist schwer, wenn man kaum etwas sieht. Dünne Äste brechen, und die schrundige Rinde schneidet in seine Finger. Ein Schuh gleitet von seinem Fuß; er hört ihn noch gegen einen und gegen noch einen Ast prallen. Sich an den Stamm klammernd, schiebt er sich empor und schafft es noch ein wenig höher. Dann kann er nicht mehr.

Eine Weile hängt er. Er hat sich vorgestellt, dass er auf einem breiten Ast schlafen könnte, an den Stamm gelehnt, aber jetzt merkt er, dass das so nicht geht. Es gibt nichts Weiches an einem Baum, und man muss sich ständig anklammern, damit man nicht fällt. Ein Zweig presst sich gegen sein Knie. Zunächst meint er, dass sich das aushalten lässt, doch auf einmal ist es unerträglich. Auch der Ast, auf dem er sitzt, schmerzt ihn. Er muss an das Märchen von der bösen Hexe und der schönen Tochter und dem Ritter und dem Goldapfel

denken: Wird er je erfahren, wie es endet?

Er steigt wieder ab. Das ist schwierig im Dunkeln, aber er ist geschickt und rutscht nicht ab und erreicht den Boden. Nur kann er seinen Schuh nicht mehr finden. Wie gut, dass wenigstens der Esel da ist. Der Junge schmiegt sich an das weiche, sanft stinkende Tier.

Ihm fällt ein, dass seine Mutter zurückkommen könnte. Wenn sie auf dem Weg nach Hause gestorben ist, könnte sie plötzlich auftauchen. An ihm vorbeistreifen könnte sie, ihm etwas zuraunen, ihm ihr verwandeltes Gesicht zeigen. Der Gedanke lässt sein Herz gefrieren. Könnte es wirklich sein, dass man einen Menschen gerade noch geliebt hat, aber im nächsten Moment stirbt man vor Schreck, wenn dieser Mensch zurückkommt? Er denkt daran, dass die kleine Gritt letztes Jahr beim Pilzesammeln ihrem toten Vater begegnet ist: Keine Augen hat er gehabt, und eine Handbreit über dem Boden ist er geschwebt. Und an den Kopf denkt er, den Großmutter vor vielen Jahren im Grenzstein hinter dem Steger-Hof gesehen hat, heb den Rock, Mädchen, und da sei keiner hinter dem Stein versteckt gewesen, sondern der Stein habe mit einem Mal Augen und Lippen gehabt, so heb ihn doch schon und zeig, was drunter ist! Großmutter hat das erzählt, als er klein war; jetzt ist sie lange schon tot, auch ihr Körper muss längst zerfallen sein, ihre Augen sind zu Steinen geworden und ihre Haare zu Gras. Er befiehlt sich, nicht an solche Dinge zu denken, aber es gelingt ihm nicht, und vor allem einen Gedanken kann er nicht wegwischen: Lieber soll Agneta tot sein, lieber in der tiefsten ewigen Hölle gefangen, als plötzlich als Geist aus den Büschen zu treten.

Der Esel zuckt, Holz knackt in der Nähe, etwas kommt heran, seine Hose füllt sich mit Wärme. Ein wuchtiger Körper streift vorbei und entfernt sich wieder, seine Hose wird kalt und schwer. Der Esel brummt, er hat es auch gespürt. Was war das? Jetzt ist da ein grünliches Glimmen zwischen den Ästen, größer als ein Glühwürmchen, doch weniger hell, und vor Angst kommen ihm fiebrige Bilder in den Kopf. Ihm ist heiß, dann wird ihm kalt. Dann wieder heiß. Und trotz allem denkt er: Agneta, lebend oder tot, darf nicht wissen, dass er in die Hose gemacht hat, sonst gibt es Schläge. Und als er sie wimmernd unter einem Busch liegen sieht, der zugleich das Band ist, an dem die Erdscheibe vom Mond hängt, sagt ihm ein Rest seines sich auflösenden Verstandes, dass er wohl gerade einschläft, ermüdet von seiner Angst und all dem Herzklopfen, gnädig seinen schwindenden Kräften überlassen, auf dem kalten Boden und im Nachtlärm des Waldes, neben dem leise schnarchenden Esel. Und so weiß er nicht, dass seine Mutter tatsächlich nicht fern von ihm auf dem Boden liegt, wimmernd und stöhnend, unter einem Busch, der nicht viel anders aussieht als der Busch in seinem Traum, einer Wacholderstaude mit majestätisch vollen Beeren. Dort liegt sie, in der Dunkelheit, dort.