»Vielleicht?«
»Das Dilemma ist, daß ihr vielleicht beide recht habt - oder euch beide irrt«, sagte Hartmann achselzuckend. »Vielleicht hat Seybert recht, und die Moronie kommen nie. Dann ist das alles hier eine furchtbare Verschwendung von Arbeitskraft und Material, die wir uns weiß Gott nicht leisten können. Selbst einige meiner Wissenschaftler sind der Auffassung, daß das Transmitternetz der Moroni vielleicht nie wieder eingeschaltet werden kann.«
»Das hast du mir nie gesagt«, sagte Charity.
Hartmann zuckte erneut mit den Schultern. »Eine dumme Angewohnheit von mir«, erwiderte er. »Schlechte Nachrichten behalte ich lieber für mich. Und was ist, wenn du recht hast? Wenn wir Baumaschinen und Atmosphärengeneratoren bauen statt Raumjäger, und in fünf Jahren erscheint ein weiteres Trägerschiff der Moroni? Und wir sind nicht vorbereitet?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dir die Antworten nicht geben, die du haben willst, Charity. Ich bin Soldat, genau wie du. Ich tue das, was ich gelernt habe, und kann einfach nur hoffen, daß es richtig ist.«
»Das hilfst mir jetzt wirklich weiter«, sagte Charity säuerlich.
Natürlich war es ziemlich naiv gewesen, von Hartmann eine Antwort auf eine Frage zu erwarten, die nicht zu beantworten war, denn im Grunde sprach aus dieser Frage nur der verzweifelte Wunsch, daß sie sich irrte.
»Und jetzt laß uns gehen«, sagte Hartmann. »Es sei denn, du möchtest gleich schon einen Krieg erleben. Und den wird es geben, wenn wir zu spät zum Essen kommen. Net versteht da keinen Spaß.«
Sie lachten, nicht ganz echt, aber trotzdem befreiend, und wandten sich um. Charity hatte gar nicht gemerkt, daß sie den Hangar fast vollkommen durchquert hatte, so daß sie eine ganze Weile brauchten, um den Ausgang zu erreichen.
Während Hartmann seine Codekarte in den Schlitz neben der Tür schob und darauf wartete, daß der Computer den Code identifizierte und die Tür freigab, fragte Charity: »Wie viele von diesen Jägern habt ihr gebaut?«
»Nur diese hier«, antwortete Hartmann. »Plus eine Schwadron, die sich bereits an Bord der EXCALIBUR befindet. Vierundzwanzig Schiffe.«
»Dann solltest du sie gut verstecken«, sagte Charity. »Damit Seybert und Drasko sie nicht sehen.«
Hartmann blickte fragend und ein wenig erschrocken, wie es Charity vorkam.
»Ich habe die Absicht, Seybert und Drasko mit zur EXCALIBUR zunehmen«, erklärte Charity. »Vielleicht ändern sie ihre Meinung ja doch noch, wenn sie sehen, wofür wir all diese Mittel aufwenden.«
Hartmann sah nicht begeistert aus, aber er antwortete auch nicht, sondern hob nur abermals die Schultern und zog seine Codekarte aus dem Schlitz. Die Tür glitt mit einem saugenden Geräusch auf, und sie traten nebeneinander in den dahinterliegenden Aufzug. Charity wartete darauf, daß Hartmann irgend etwas zu ihrem überraschenden Vorschlag sagte, aber er schwieg beharrlich, während der Lift mit einem kaum wahrnehmbaren Summen die zwanzig Stockwerke bis zur Erdoberfläche hinaufglitt.
Schließlich gab Charity es auf. Hartmann hatte ja vollkommen recht: Sie hatten nun einige wenige Stunden Freizeit vor sich, die einfach zu kostbar waren, um sie auch noch mit düsteren Gedanken zu verschwenden. Charity hatte Net und die Kinder fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, und mit einiger Wahrscheinlichkeit würde auch wieder ein Jahr vergehen, bevor sie sich das nächste Mal zu sehen bekamen. Zum Teufel mit Drasko und Seybert, wenn sie sich von diesen Sesselfurzern auch noch ihren winzigen Rest an Freizeit verderben ließ!
Sie vermieden beinahe krampfhaft alles, was auch nur ungefähr in diese Richtung wies, und schafften es tatsächlich, ihre Gespräche auf dem Weg zu Hartmanns Haus auf ein beinahe normales Niveau zu bringen. Es war ja nicht so, als gäbe es zwischen Hartmann und Charity nichts, was sie privat verband. Im Gegenteiclass="underline" Abgesehen von Skudder vielleicht waren Hartmann und Net die beiden Menschen auf dieser Welt, die Charity am nächsten standen. Was sie zusammengeschmiedet hatte, das war natürlich auch - und vor allem - der Kampf gegen die Besatzer gewesen, aber darüber hinaus noch sehr viel mehr. In Net hatte Charity, trotz aller sichtbaren Unterschiede, letztendlich sich selbst wiedererkannt; nicht den Menschen, der sie war, aber sehr wohl den Menschen, der aus ihr hätte werden können, wäre sie fünfzig Jahre später und unter der Herrschaft der Moroni geboren worden.
Und Hartmann... Charity war nicht ganz sicher gewesen und war es bis heute nicht, ob sie in dem grauhaarigen Soldaten nun nur einen Freund, den Vaterersatz oder nicht sehr viel mehr sah, und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Es gab Dinge, die ihren Zauber verloren, wenn man ihnen zu sehr auf den Grund ging.
Sie passierten mehrere Sicherheitsbarrieren, die teils elektronischer Art, teils von Menschen besetzt waren, und überquerten den Paradehof, der nicht nur das geographische Zentrum der Basis bildete, sondern auch den gesamten Ort markierte, an dem sie nach Ende der Invasion die erste freie Stadt auf europäischem Boden gegründet hatten. Die Stadt selbst war einige Meilen weiter westlich entstanden, aber dieses spezielle Fleckchen Erde würde seine historische Bedeutung niemals verlieren - wenigstens nicht für Charity. Und wohl auch nicht für Hartmann, denn sein Haus befand sich in unmittelbarer Nähe des Platzes.
Er behauptete, daß dies aus ganz praktischen Gründen geschehen sei, einfach nur, um Net und ihm einen langen Weg zur Arbeit zu ersparen. Zum Teil traf das vermutlich zu, doch Charity war auch sicher, daß ein Gutteil Sentimentalität bei dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hatte.
Nach einem Tag, der nach Charitys Auffassung dem Begriff Katastrophe ziemlich nahe gekommen war, freute sie sich auf einen ganz normalen, entspannenden Abend im Kreise ihrer Freunde, und sie wurde nicht enttäuscht. Net und die Zwillinge begrüßten sie so überschwenglich, daß Charity vollkommen außer Atem war, noch ehe sie das Haus betrat. Jack und Christopher waren knapp fünf Jahre alt, aber sie hatten nicht nur die kräftige Statur ihres Vaters, sondern auch die Wildheit und den Übermut ihrer Mutter geerbt, und obwohl sie Charity noch seltener zu Gesicht bekamen als ihre Eltern, hatten die Kinder sie in ihr Herz geschlossen und zeigten dies auf ihre ganz persönliche Art und Weise. Es dauerte gut fünf Minuten, bis Net dem Überfall lachend, aber energisch ein Ende bereitete und die Hand ausstreckte, um Charity vom Boden hochzuhelfen.
Charity richtete sich ächzend auf und mußte sich schon wieder eines Ansturms der beiden Racker erwehren, aber diesmal war sie vorbereitet und wurde wenigstens nicht von den Füßen gerissen. Net rief die Zwillinge ein zweites Mal zur Ordnung, doch Charity winkte mit einem Kopfschütteln ab.
»Laß sie ruhig«, sagte sie. »Es macht mir wirklich nichts aus. Ganz im Gegenteil. Offenbar gibt es hier wenigstens zwei Menschen, die sich freuen, mich zu sehen.«
»Drei«, wurde sie von Net verbessert. Dann fragte sie: »War es so schlimm? Hartmann hat nicht viel von der Ratssitzung erzählt. Nur, daß es nicht sehr erfreulich war.«
Charity griff rasch zu, nahm Jack auf den linken und Christopher auf den rechten Arm und zog eine Grimasse. »Frag lieber nicht.«
»So schlimm?«
»Schlimmer.« Charity wankte ein bißchen unter dem Gewicht der beiden Jungen. Sie waren für ihr Alter nicht nur erstaunlich groß, sondern auch überraschend schwer.
»Manchmal frage ich mich, ob die Moroni uns die Bürokraten nicht absichtlich zurückgelassen haben, um uns fertig zu machen.«
»Seybert als Ameise?« Net legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. »Wenn sie zwei Arme mehr hätte...«
Lachend gingen sie weiter. Skudder erwartete sie in dem großen, behaglich eingerichteten Wohnzimmer. Er stand auf, als Charity und Net hereinkamen, und sofort sprangen Christopher und Jack von Charitys Armen und stürzten sich mit Kriegsgeheul auf ihn. Net holte Luft, um sie zurückzupfeifen, schüttelte dann aber nur den Kopf und deutete auf den Tisch.