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»Setzt euch«, seufzte sie. »Wir essen später, sobald dein Indianer und meine Söhne vom Kriegspfad zurück sind. Außerdem ist da noch jemand, der auf dich wartet.«

Sie trat zur Seite, und Charity war für einen Moment so überrascht, daß sie mitten im Schritt stockte.

An dem großen Glastisch in Nets Wohnzimmer saßen Melissa und ihre Mutter.

»Die beiden sind vorbeigekommen, um sich bei dir zu bedanken«, sagte Net. »Ich habe sie gebeten, zum Essen zu bleiben - vorausgesetzt, du hast nichts dagegen.«

»Natürlich nicht«, antwortete Charity bestimmt. Ganz im Gegenteil - sie freute sich ehrlich, das Mädchen und seine Mutter wiederzusehen. Die Marines hatten Melissa, Walter und sie in einem Jet verfrachtet und mit Höchstgeschwindigkeit zur Basis zurückgeflogen, und sie hatte nicht einmal richtig Zeit gehabt, sich von der Kleinen zu verabschieden. Um so überraschter war Charity nun, als sie das Mädchen und seine Mutter wiedersah.

Sowohl Melissa als auch ihre Mutter hatten sich auf ganz erstaunliche Weise verändert. Ihre zerrissenen Kleider waren verschwunden und hatten den einfachen, aber kleidsamen Overalls Platz gemacht, die hier in der Basis allgemein getragen wurden.

Sie wirkten beider jünger, als Charity sie in Erinnerung hatte, was wahrscheinlich daran lag, daß sie vielleicht zum erstenmal im Leben sauber und frisch gewaschen waren und gekämmtes Haar hatten.

Charity war erstaunt, wie attraktiv Melissas Mutter war. Wäre der Ausdruck tief eingegrabener Furcht in ihren Augen nicht gewesen, hätte sie eine wirkliche Schönheit sein können.

Charity wartete zwei oder drei Sekunden lang vergeblich darauf, daß einer der beiden irgend etwas sagte, dann trat sie einen weiteren Schritt auf den Tisch zu und zwang ein nicht ganz geglücktes Lächeln auf ihr Gesicht.

»Hallo«, sagte sie. »Das ist aber wirklich eine Überraschung.«

Melissas Mutter sagte nichts, doch das Flackern in ihrem Blick verstärkte sich. Ihre Tochter jedoch erwiderte Charitys Lächeln ganz offen. »Wir wollen uns noch einmal bedanken«, sagte sie. »Der Mann im Lazarett hat gesagt, daß wir morgen weg müssen, aber daß Sie wahrscheinlich nichts dagegen hätten, wenn wir noch einmal herkommen, um auf Wiedersehen zu sagen.«

Charity warf Hartmann einen fragenden Blick zu.

»Wir bringen sie in ein Auffanglager«, sagte er. »Das hier ist eine Militärbasis.«

Bei dem Wort Lager blitzte es in den Augen der jungen Frau neben Melissa erschrocken auf, und Hartmann fügte rasch hinzu: »Das ist nichts Schlimmes. Wir bringen alle dorthin, die wir draußen in der Wildnis antreffen. Sie werden dort endgültig gesund gepflegt und lernen ein paar einfache Regeln, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert.«

Die Worte schienen keine besonders beruhigende Wirkung auf Melissas Mutter zu haben. Vermutlich verstand sie nicht einmal richtig, was Hartmann ihr zu sagen versuchte - und wie auch? Wenn Charitys Vermutung stimmte, dann hatten diese Menschen ihr ganzes Leben in Höhlen, unterirdischen Stollen und Kellern verbracht, ununterbrochen auf der Flucht und vermutlich immer voller Angst. Niemand konnte realistisch erwarten, daß sie Hartmann oder auch Charity trauten.

»Ich... möchte nicht dorthin«, sagte sie schließlich, schleppend und mit angstvoll gesenktem Blick. Ihre Finger spielten nervös an der Tischkante. »Wir wollen nach Hause.«

Hartmann wollte widersprechen, doch Charity brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Verstummen, ging um den Tisch herum und setzte sich neben die junge Frau auf die Couch. Sie vermied es, sie zu berühren, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.

»Das verstehe ich gut... wie ist dein Name?«

»Sandra«, antwortete die junge Frau. Sie sah Charity nicht an.

»Das verstehe ich gut, Sandra«, begann Charity von Neuem. »Das alles hier muß sehr fremd für dich sein, und sehr erschreckend. Aber du kannst nicht nach Hause.«

»Warum nicht? Wir haben nichts getan!«

»Natürlich nicht«, antwortete Charity. »Aber das, was du bis jetzt als dein Zuhause angesehen hast, existiert nicht mehr. Und es ist dort viel zu gefährlich. Ihr könnt nicht zurück.«

»Aber wo sollen wir hin?« fragte Melissa.

»Ihr bleibt bei uns«, antwortete Charity. »Nicht hier bei uns, aber ganz in der Nähe. In einer großen Stadt, in der viele Menschen wie wir leben. Dort ist es sehr schön. Und vor allem friedlich. Niemand wird euch dort etwas tun. Ihr müßt vor niemandem mehr davonlaufen, und ihr werdet nie mehr hungern müssen.«

Auf der anderen Seite des Zimmers erscholl ein zweistimmiges, gellendes Kriegsgeheul, und Charity sah aus den Augenwinkeln, wie Skudder unter dem Ansturm der Zwillinge zu Boden ging und in gespielter Verzweiflung die Hände über das Gesicht hob.

Net verdrehte die Augen, und Hartmann unterdrückte ein Grinsen, doch Charity sah auch, daß der Schrecken in Sandras Gesicht neue Nahrung bekam.

»Wir werden darüber reden«, fuhr sie fort, und etwas lauter und mit mehr Betonung in Skudders Richtung: »In aller Ruhe.«

Skudder grinste, setzte sich mit einem Ruck auf und wäre fast nach vorne gefallen, als Jack mit gellendem Indianergeheul auf seinen Rücken sprang und beide Arme um seinen Hals schlang. Christopher hatte ihn derweil am Kragen gepackt und versuchte ihn zusätzlich nach vorne zu zerren. Vielleicht war es auch umgekehrt. Charity hatte die beiden noch nie auseinanderhalten können, und obwohl Net natürlich hartnäckig das Gegenteil behauptete, argwöhnte sie, daß es ihr ebenso erging.

Net mußte die beiden Kleinen und das zu groß geratenen Kind noch zweimal zur Ordnung rufen, aber schließlich saßen sie alle zusammen am Tisch und aßen.

Hartmann hatte nicht übertrieben. Das Essen hätte zwar keinem professionellen Gastronomiekritiker stand gehalten, war aber schmackhaft und ganz und gar nicht mit dem Essen zu vergleichen, mit dem die Army Charitys Geschmacksnerven früher attackiert hatte. Vor allem Melissa und ihre Mutter langten nach anfänglichem Zögern kräftig zu, und man mußte nicht fragen, um zu begreifen, daß sie nie im Leben etwas Köstlicheres gegessen hatten. Vermutlich, dachte Charity, haben sie in ihrem ganzen Leben noch nichts gegessen, bei dessen bloßem Anblick sich mir nicht der Magen umgedreht hätte.

Der Gedanke rief ihr wieder massiv ins Gedächtnis, wo und unter welchen Umständen sie diese Leute kennengelernt hatte, und eine Mischung aus Entsetzen und Zorn machte sich in ihr breit. Entsetzen über die Umstände ihres Zusammentreffens, und Zorn auf die Geschöpfe, die ihre Heimatwelt in eine Hölle verwandelt hatten, in der so etwas nicht nur möglich war, sondern beinahe schon zur Tagesordnung gehörte.

Charitys Gedanken mußten sich wohl ziemlich deutlich auf ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn Melissa hörte plötzlich auf zu kauen, schaute sie einen Moment lang aus großen Augen an und fragte dann unsicher: »Habe ich... irgend etwas falsch gemacht?«

»Falsch?« Charity schüttelte hastig den Kopf und versuchte, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zwingen. »Natürlich nicht. Warum fragst du?«

»Du siehst zornig aus«, sagte Melissa. Sie legte das Stück Fleisch, von dem sie gerade abgebissen hatte, aus der Hand und nickte. »Ihr seid wütend, weil wir zu viel essen«, stellte sie fest.

»Ach, was«, widersprach Charity. »Es gibt hier für alle genug. Mehr als genug, glaub mir. Ich mußte nur... an etwas denken.«

»An die Ungeheuer im Himmel?«

»Ungeheuer im Himmel?«

Melissa deutete nach oben. »Die Götter, die zwischen den Sternen wohnen und den Tod bringen.«

»Dort oben leben keine Götter«, sagte Charity lächelnd. »Jedenfalls keine, vor denen du dich zu fürchten brauchtest.«

»Aber die Alten erzählen, daß die Ungeheuer von den Sternen gekommen sind und uns unter die Erde vertrieben haben«, widersprach Melissa.

»Das stimmt«, antwortete Charity nach kurzem Zögern. »Aber es ist lange her. Niemand muß heute mehr unter der Erde leben.«