Melissa warf einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Die Nacht war hereingebrochen, aber wie in jeder Nacht seit acht Jahren wurde es nicht richtig dunkel. Nach der Implosion des Mondes waren die Nächte nicht finsterer geworden, wie Charity damals ganz instinktiv erwartet hatte, sondern ganz im Gegenteil heller. Statt eines einzelnen großen Mondes leuchteten am Himmel nun Millionen von Bruchstücken, die bereits begonnen hatten, einen Ring zu bilden; nicht so formvollendet und ästhetisch wie die des Saturn, aber leuchtstark genug, um aus der Nacht eher ein graues Zwielicht zu machen, statt undurchdringliche Dunkelheit.
Manchmal blitzte es vor dem Hintergrund des zerfaserten Leuchtbandes kurz und heftig auf. Auch das gehörte zu den Nächten auf der neuen Erde: Sternschnuppen waren nichts Besonderes mehr, sondern alltäglich.
»Und wo sind sie jetzt?« fragte Melissa schließlich.
»Sie sind fort«, antwortete Skudder. »Charity hat sie vertrieben.«
Melissa blinzelte. »Du allein?«
»Skudder übertreibt, wie immer«, sagte Charity, während sie Skudder einen zornigen Blick zuwarf - den dieser natürlich mit einem Grinsen beantwortete. »Ich habe mitgeholfen, sie zu verjagen, das ist richtig. Aber ich war es nicht allein. Auf jeden Fall gibt es nun keinen Grund mehr, Angst vor dem Himmel zu haben. Ganz im Gegenteil - dort oben leben Menschen. Sie sind unsere Freunde und passen auf uns auf.«
Melissas Augen wurden groß. »Dort oben? Das glaube ich nicht!«
»Melissa!« sagte Sandra scharf.
Charity winkte ab, stand auf und bedeutete Melissa mit einer Handbewegung, ihr zum Fenster zu folgen.
»Siehst du diesen hellen Stern dort oben?« Sie deutete auf einen besonders hellen, gleichmäßig leuchtenden Fleck inmitten des flimmernden Lichtbandes am Himmel. Melissas Blick folgte Charitys Hand. Sie nickte.
»Das ist kein Stern«, fuhr Charity fort. »Sondern eine Stadt. Sie schwebt hoch am Himmel, und es leben Hunderte von Menschen darin. Sie sind unsere Wächter, weißt du? Sie passen auf, daß die Ungeheuer nicht wiederkommen.«
»Das... das glaube ich nicht«, flüsterte Melissa. »Das sagst du nur, damit ich keine Angst mehr habe.«
Charity lachte, strich Melissa mit der linken Hand über den Kopf, und plötzlich hatte sie einen Einfall. Rasch sah sie auf die Uhr und drehte sich zu Hartmann und den anderen um.
»Es ist eigentlich noch früh«, sagte sie. »Was haltet ihr davon, wenn wir den Nachtisch auf dem Aussichtsdeck von Skytown essen?«
5
Um den Anblick, der sich vom Aussichtsdeck von Skytown aus bot, wirklich zu beschreiben, hätte man das Wort grandios neu definieren müssen. Der kreisrunde, mehr als achtzig Meter durchmessende Saal schien zum allergrößten Teil aus Glas zu bestehen, so daß den Betrachter ein nahezu perfekter Rundumblick auf den Asteroidengürtel, das All und die Erde gewährt wurde, die gut fünfhundert Kilometer unter der Himmelsstadt hing. Skytown drehte sich einmal in zweieinhalb Stunden um seine eigene Achse, so daß das grandiose Himmelspanorama draußen statisch zu sein schien, ohne wirklich still zu stehen.
Charity nippte an ihrem Kaffee und sah abwechselnd Melissa und ihre Mutter und die graublau marmorierte Riesenkugel der Erde an, die leicht gegen ihre Achse geneigt zum Greifen nahe vor den Fenstern zu hängen schien. Skytown befand sich auf einer geostationären Umlaufbahn um die Erde, was bedeutete, daß sie relativ zur Erde scheinbar bewegungslos am Firmament hing. Auf dem Teil des blauen Planeten, den sie von hier aus sehen konnten, herrschte im Moment Nacht. Eine sehr klare Nacht, wie es aussah, denn sie konnte die Lichter der Handvoll Städte und Industriezentren, die diesen Namen verdienten, wie winzige Sterne unten auf der Erdoberfläche funkeln sehen.
Es war ein majestätischer, wunderschöner Anblick, der Charity trotzdem ein wenig melancholisch stimmte, denn er zeigte ihr nicht nur, wie viel sie in den letzten acht Jahren bereits geschafft hatten - viel deutlicher machte es ihr klar, wie viel, wie unendlich viel sie noch zu tun hatten. Die Moroni hatten fünfzig Jahre gebraucht, um diesen Planeten zu verheeren, und die Menschen würden wahrscheinlich ebenso lange brauchen, um ihn wieder aufzubauen.
Charity verscheuchte diesen Gedanken und schaute wieder zu Melissa hinüber. Wie der Anblick der Erde auf das Mädchen wirkte, vermochte sie nicht zu sagen. Natürlich war sie bis ins Mark erschrocken gewesen, als sie sich alle zusammen in Charitys Jet gesetzt und kurzerhand hier heraufgeflogen waren, doch anders als ihre Mutter hatte Melissa diesen Schrecken rasch überwunden, und statt Entsetzen und Furcht hatten kindliches Staunen und Begeisterungsfähigkeit Besitz von ihr ergriffen.
Sandra dagegen saß noch immer verkrampft auf ihrem Stuhl und wagte es nur von Zeit zu Zeit und auch für wenige Sekunden, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, während Jack und Christopher irgendwo im Hintergrund der Halle verschwunden waren und mit Skudder Indianer und Moroni spielten. Für die Zwillinge war der Blick aus dem Panoramafenster nichts Außergewöhnliches. Skytown war offiziell zwar eine militärische Einrichtung, aber da ihr Vater Oberbefehlshaber der euro-asiatischen Streitkräfte war, gingen sie hier praktisch ein und aus, wie es ihnen beliebte.
Überhaupt sah Charity eine Menge Zivilisten. Das Aussichtsdeck war gut besucht, und mehr als die Hälfte der Gäste, die an den kleinen Tischen saßen und aßen oder etwas tranken oder einfach nur die phantastische Aussicht genossen, trugen keine Uniform. Das traf an diesem Abend sogar auf Charity, Hartmann und Skudder zu, aber es war auch nicht die Kleidung, auf die Charity achtete: Sie erkannte einen Soldaten, selbst wenn er Zivil trug. Sie nahm sich vor, Hartmann bei nächster Gelegenheit zu fragen, ob sich in Skytown irgend etwas Grundsätzliches geändert hatte, was ihr entgangen war. Aber nicht jetzt. Der Abend war zu schön, um ihn sich selbst zu verderben.
Sie verscheuchte den Gedanken und wandte sich an Melissa. »Na? Gefällt es dir hier?«
Die Frage war überflüssig. Melissa saß seit einer halben Stunde vor einem köstlichen Schokoladenpudding, ohne ihn angerührt zu haben. Sie hatte nur Augen für den Anblick auf der anderen Seite der Fenster. Sie nickte heftig.
»Es ist wunderschön«, sagte sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. »Hast du das gebaut?«
Charity lächelte. »Nein. Wir haben es nicht gebaut. Das hätten wir gar nicht gekonnt. Die Unge... die Moroni haben diese Station errichtet. Wir haben sie nur übernommen und ein wenig umgebaut, nachdem sie fort waren.«
»Dann müssen sie sehr kluge Wesen gewesen sein«, sagte Melissa. »Ich habe noch nie von einer Stadt im Himmel gehört.« Sie deutete auf einen hellen Fleck, der eine Handbreit über dem Südpol der Erde blitzte. »Was ist das? Noch eine fliegende Stadt?«
»Nicht ganz«, antwortete Charity. »Das ist die EXCALIBUR... jedenfalls wird sie es einmal sein.«
»EXCALIBUR?«
»Ein Raumschiff«, sagte Charity. Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst, als sie den absurden Stolz in ihrer Stimme hörte. »Eines Tages werden wir damit vielleicht zu anderen Sternen fliegen.«
»Warum?«
Charity machte eine Handbewegung nach oben. »All diese kleinen Sterne, die du da siehst, Melissa, sind in Wahrheit riesengroß. Es sind Sonnen, genau wie die, die an unserem Himmel steht. Viele davon haben Planeten, wie die Erde, und wahrscheinlich leben auf vielen Planeten andere Wesen. Wäre es nicht schön, sie zu besuchen?«
»Die Ungeheuer sind von dort gekommen«, sagte Melissa.
»Ich glaube nicht, daß sie alle so böse sind«, antwortete Charity lächelnd.
»Und selbst wenn«, fügte Hartmann hinzu, »dann ist es vielleicht besser, wir gehen zu ihnen, bevor sie zu uns kommen.«