Charity betrachtete das Pult einige Sekunden lang unschlüssig, dann beugte sie sich vor und drückte auf eine darunter angebrachte, übergroße Taste. Nur einen Augenblick später leuchtete ein handgroßer sechseckiger Bildschirm in dem Kontrollpult vor ihr auf. Charity war kein bißchen überrascht, als sie Skudders Gesicht in der dreidimensionalen Darstellung erkannte. Der verärgerte Ausdruck darauf überraschte sie noch weniger.
»Was, zum Teufel, treibst du eigentlich da draußen?« polterte Skudder übergangslos und ohne sich mit einer irgendwie gearteten Begrüßung aufzuhalten. Genau das, was sie jetzt brauchte.
»Halle, Schatz«, antwortete Charity. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Skudder setzte zu einer wütenden Entgegnung an, beherrschte sich im letzten Moment und beließ es bei einem Kopfschütteln und einem Seufzen, das mehr sagte als alle Worte.
»Was soll das?« fragte er.
»Was soll was?« gab Charity zurück, vielleicht nicht mehr ganz so freundlich wie zuvor, aber immer noch lächelnd. »Ich teste Hartmanns neuestes Spielzeug. Das ist mein Job, weißt du? Ich bin Testpilotin.«
»Du warst Testpilotin«, verbesserte Skudder sie, nur noch mühsam beherrscht und ohne auf das Friedensangebot einzugehen, das Charity ihm mit ihren scherzhaften Bemerkungen unterbreitet hatte. »Vor ungefähr sechzig Jahren. Du sitzt in einem Prototyp, der noch nie unter Ernstfallbedingungen getestet wurde, und wir haben hier etwa zweihundert Männer, die diese Maschine besser kennen als du und die schnellere Reaktionen haben und nicht einmal halb so alt sind, und so ganz nebenbei möchte ich hinzufügen -«
»Vielen Dank für das Kompliment«, sagte Charity, doch Skudder ignorierte ihre Worte einfach und fuhr fort:
»- und so ganz nebenbei, Captain Charity Laird, bin ich Ihr persönlicher Sicherheitsbeauftragter und werde fürstlich dafür bezahlt, über Ihre körperliche Unversehrtheit zu wachen.«
Charity zog eine Grimasse. »Bist du bald fertig?«
»Mit den Nerven, ja«, antwortete Skudder. Er war nun sichtlich mit seiner Beherrschung am Ende. »Charity, bitte! Du bist kein Teenager mehr, der ab und zu mal über die Stränge schlägt, sondern -«
»Das ist jetzt das zweite Mal, daß du auf mein Alter anspielst«, fiel Charity ihm ins Wort. »Sollte ich anfangen, mir gewisse Sorgen hinsichtlich unserer privaten Beziehung zu machen?«
Skudder preßte die Lippen aufeinander und schwieg geschlagene drei Sekunden. Sein Gesicht wirkte wie Stein, aber Charity kannte ihn weiß Gott lange und gut genug, um zu wissen, wie es hinter dieser Maske wirklich aussah. Sie gemahnte sich in Gedanken zur Mäßigung. Skudder stand kurz davor, zu explodieren, und das vollkommen zu recht. »Das hier ist ein offener Kanal«, fuhr sie nach einigen weiteren Sekunden fort. »Vielleicht sollten wir unsere privaten Meinungsverschiedenheiten an einem Ort austragen, an dem uns nicht die halbe Galaxis zuhören kann.«
»Ganz wie du willst.« Skudder nickte abgehackt. »Hartmann erwartet uns in einer halben Stunde in seinem Büro. Und ich«, fugte er mit leicht erhobener Stimme und eine halbe Nuance lauter hinzu, »erwarte dich in zehn Minuten im Hangar.«
Skudder unterbrach die Verbindung, ehe Charity Gelegenheit zu einer Erwiderung fand, aber der Bildschirm wurde nicht schwarz, sondern zeigte ein verschlungenes Symbol in rot und blau. Charity zog eine Grimasse. Skudder hatte nicht einfach abgeschaltet, sondern eine Online-Verbindung zwischen dem Bordcomputer des Jet und seinem eigenen Rechner bestehen lassen. Charity hatte keine Ahnung, ob er auf diese Weise vielleicht sogar in der Lage war, die Kontrolle über die Maschine zu übernehmen. Auf jeden Fall konnte er genau verfolgen, was sie tat.
Charitys Laune verschlechterte sich noch weiter. Skudder tat strenggenommen nur seinen Job, doch er übertrieb es gewaltig. Sie hatte ihn als Sicherheitsbeauftragten engagiert, nicht als Kindermädchen. Du hättest auf Hartmann hören und Privatleben und Beruf auseinanderhalten sollen, sagte sie sich mißmutig.
Ohne große Hoffnung auf Erfolg versuchte sie, die Funkverbindung zu unterbrechen. Natürlich gelang es ihr nicht. Sie seufzte, bedachte das flackernde Symbol auf dem Monitor mit einem weiteren bösen Blick und programmierte den Kurs zurück zur Basis. Als Charity die letzte Ziffer eingeben wollte, begann auf dem asymmetrischen Pult vor ihr plötzlich ein rotes Licht zu blinken.
Charity runzelte die Stirn. Ihr Finger schwebte noch eine Sekunde unentschlossen über der Tastatur des Nav-Computers, dann zog sie die Hand unverrichteter Dinge wieder zurück und wandte ihre ganze Konzentration dem flackernden roten Licht zu. Der Bewegungsscanner des Jet hatte ein Ziel erfaßt.
Und das hätte eigentlich nicht der Fall sein dürfen.
Nicht eigentlich, verbesserte Charity sich in Gedanken. Überhaupt nicht.
Die Ruinenstadt, die sich unter dem Jet ausbreitete, so weit man sehen konnte, diente den Piloten der Basis seit fünf Jahren als Schießübungsplatz. Bis vor ein paar Sekunden war Charity felsenfest davon überzeugt gewesen, das nichts, was wesentlich größer als eine Katze war, den Sicherheitsbereich durchdringen konnte, den Hartmanns Ingenieure mit einem enormen Aufwand an Technik und Energie rings um die zerstörte Stadt errichtet hatten.
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Charitys Magen aus, während sie nach dem Steuerungsknüppel griff und gleichzeitig den Autopiloten deaktivierte. Sie hatte noch die kleine Chance, daß der Scanner des Jet einfach defekt war. Wenn nicht... Noch vor ein paar Minuten hatte sie genug tödliche Energie auf diese Stadt abgefeuert, um ganz Skytown damit eine Woche lang zu erleuchten. Allein bei dem Gedanken, daß sich inmitten der Trümmerlandschaft unter ihr Menschen aufhalten könnten, wurde ihr beinahe körperlich übel.
Der Jet setzte sich lautlos in Bewegung und gewann dabei langsam an Höhe. Charitys Blick wanderte beständig zwischen dem Anblick der Trümmereinöde unter ihr und dem blinkenden roten Punkt auf dem Scannerbildschirm hin und her. Der Knoten in ihrem Magen wurde härter, als sie die rasch wechselnden Zahlenkolonnen am unteren rechten Rand des Bildschirmes sah. Die Zahlen waren noch nicht ganz eindeutig, aber es konnten Menschen sein. Vier, fünf, sechs... Der rote Leuchtpunkt zerfiel in ein knappes Dutzend kleinerer, flackernder Blips, und die Zahlenkolonnen darunter begannen sich zu überschlagen.
Charity fluchte lautlos in sich hinein. Es waren Menschen, ganz zweifellos. Sie bewegten sich ziemlich schnell, zumindest für Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Sie schienen zu rennen. Vermutlich waren sie auf der Flucht. Und Charity hatte auch eine ziemlich klare Vorstellung, vor wem sie flüchteten. Sie jedenfalls wäre wie der Teufel gerannt, wenn plötzlich eine Kampfmaschine der Moroni über ihr am Himmel erschienen wäre und damit begonnen hätte, mit Gigawatt-Lasern auf Mauerreste zu feuern.
Sie konnte draußen immer noch keine Spur von Leben erkennen, aber der Knoten in ihrem Magen zog sich noch weiter zusammen, als sie ihren jetzigen Kurs in Gedanken verlängerte und sah, wie nahe einige der Einschläge an der Position der Menschen dort unten lagen. Sie beschleunigte noch etwas mehr. Der Computer informierte sie, daß sie weniger als drei Meilen von den Verursachern der roten Scannerpunkte entfernt sei. Charity hätte sie längst sehen müssen. Aber alles, was sie erkannte, waren Trümmer, brandgeschwärzte Ruinen und zu schwarzem Glas geschmolzener Boden.
Plötzlich erlosch einer der roten Leuchtpunkte. In der nächsten Sekunde flackerte der Bildschirm und beruhigte sich dann wieder. Zu dem Dutzend daumennagelgroßer Punkte hatten sich zahllose winzige, rote Funken gesellt.
Das Symbol auf dem Überwachungsmonitor erlosch und machte Skudders Gesicht Platz.