»Die meisten«, bestätigte Hartmann, »Aber -«
»Worauf warten wir dann noch?« fragte Skudder.
Barnes und vor allem Seybert wollten erneut widersprechen, aber Charity schnitt ihnen beiden mit einer knappen Geste das Wort ab. »Barnes! Runter mit den Schirmen. Und öffnen Sie die Hauptschleuse!«
»Aber... aber wozu denn das?« ächzte Seybert.
»Weil sie es sonst machen«, antwortete Barnes mit einer Geste auf die näherkommenden Landungsschiffe auf dem Monitor. »Und wir haben schon genug Löcher in der Station.«
Während Charity, Skudder und - nach sekundenlangem Zögern - auch Hartmann sich umwandten, gab Barnes dem Brückenpersonal mit knappen Gesten zu verstehen, daß sie Charitys Befehl nachkommen sollten. Dann drehte er sich noch einmal zu ihnen herum und blickte sie ernst an.
»Viel Glück«, sagte er.
6
Nach dem Höllenlärm, der an Bord der Himmelsstadt geherrscht hatte, kam Charity die Stille doppelt intensiv vor. Und sie besaß etwas Unangenehmes, Tödliches. Vielleicht ist diese Stille das letzte, was du in deinem Leben hörst, dachte Charity.
Sie hatten das Shuttle mit einem einzigen, kräftigen Schub der Triebwerke aus dem Hangar katapultiert und dann jedes technische Gerät an Bord abgeschaltet, das sie entbehren konnten. Selbst das Summen der Sauerstoffversorgung war verstummt. Das Shuttle war groß genug, um fünfundzwanzig Passagiere oder eine entsprechende Menge Fracht aufzunehmen. Charity hoffte, daß der Sauerstoff an Bord für nur drei Passagiere ausreichen würde, um den halbstündigen Flug zur EXCALIBUR zu überstehen. Sie konnten es sich nicht leisten, irgendein Gerät an Bord einzuschalten, das Wärme oder auch nur Energie in nennenswerter Menge produzierte.
Ihr Plan war so einfach wie riskant. Keiner von ihnen bildete sich ein, daß der Start des Shuttle den Angreifern verborgen geblieben war. Aber wenn sie auch nur halb so gut über Skytown Bescheid wußten, wie es nach ihrem bisherigen Vorgehen den Anschein hatte, dann mußten sie auch erkannt haben, daß es sich um einen unbewaffneten Transporter handelte, und nicht um ein Kampfschiff. Ihr ganzer Plan beruhte einzig auf der Hoffnung, daß die unbekannten Aggressoren glaubten, es würde sich um ein Schiff mit Flüchtigen handeln, und daß sie ihm weiter keine Beachtung schenkten.
Der Kurs, den sie eingeschlagen hatten, führte in flachem Winkel zur Erde. Fügte man in seiner zweiten Hälfte einen fast rechtwinkligen Knick hinzu, lag am Endpunkt des Kurses die EXCALIBUR. Der Augenblick, in dem sie den Kurs ändern mußten, war der kritische Moment. Sie hatten eine gute Chance, daß das Shuttle bereits von den Ortungsschirmen des Angreifers verschwunden war, denn so, wie es mit abgeschalteten Triebwerken durch das All glitt, war es wenig mehr als ein Stück totes Metall und kaum von den zahllosen Bruchstücken zu unterscheiden, die seit der Vernichtung des Mondes ununterbrochen auf die Erde herabregneten.
Eine Chance - aber keine Garantie. Es konnte auch gut sein, daß sie im gleichen Moment starben, in dem sie die Triebwerke zündeten.
Charity verscheuchte den Gedanken. Es war ihr Job, Risiken einzugehen. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, hinter dem Skytown rasch an Größe verlor. Aus der Entfernung betrachtet, sahen die Schäden, die der Station von den Angreifern zugefügt worden waren, beinahe harmlos aus. Doch Charity und die beiden anderen hatten auf dem Weg zum Hangar gesehen, daß die Schäden alles andere als harmlos waren. Skytown brannte an einem halben Dutzend Stellen, und es hatte zahlreiche Verletzte und Tote gegeben.
Trotzdem machte der Anblick deutlich, daß es den Angreifern nicht darum gegangen war, die Himmelsstadt zu zerstören. Abgesehen von dem Treffer auf dem Aussichtsdeck, der Charity immer mehr wie ein bloßer Terrorakt vorkam, hatten die Fremden die Station mit beinahe chirurgischer Präzision entwaffnet.
»Noch zehn Minuten«, sagte Hartmann.
In seiner Stimme war etwas, das Charity dazu brachte, ihm einen raschen Blick zuzuwerfen. Es waren die ersten Worte, die Hartmann gesagt hatte, seit sie ins Shuttle gestiegen waren. Sein Gesicht war verschlossen und zeigte keinerlei Regung, aber Charity wußte genau, was in ihm vorging.
»Sie haben es bestimmt geschafft«, sagte Charity. »Net ist eine hervorragende Pilotin.«
Hartmann schwieg auch dazu, doch die Frage, die in seinen Augen geschrieben stand, war nicht zu übersehen. Wenn Net durchgekommen war, wo blieb dann die Verstärkung?
Charity sah bewußt wieder weg. Sie machte sich ebenfalls Sorgen um Net und die Kinder, doch Net war nicht nur ihre Freundin, sie war Hartmanns Frau, und Jack und Christopher waren seine Kinder. Charity wußte, daß Hartmann es nicht überwinden würde, wenn ihnen etwas zugestoßen war.
»Ich möchte zu gern wissen, wer sie sind«, murmelte Skudder. »Warum greifen sie uns an, verdammt?«
»Um uns zu entwaffnen«, antwortete Hartmann tonlos. »Wenn ich die Erde überfallen wollte, würde ich es ganz genau so machen: Skytown, die EXCALIBUR...«
Er sprach nicht weiter, aber Charity führte den Satz für ihn zu Ende.
Und die beiden Basen in Europa und Nordamerika. Es war möglich, daß Net entkommen war und den Jet mitten in eine Schlacht lenkte.
Die Zeit verstrich quälend langsam. Schon vor Ablauf der Frist stiegen sie in die Raumanzüge. Die Kleidungsstücke hatten nichts mehr mit den klobigen Panzern zu tun, in denen sich die Astronauten des vergangenen Jahrhunderts bewegt hatten - oder es wenigstens versuchten. Sie unterschieden sich kaum von den normalen Monturen, die sie an Bord der Himmelsstadt trugen, bestanden aber aus einem äußerst widerstandsfähigen Material, das seinen Träger mehrere Stunden lang zuverlässig vor der Weltraumkälte schützte. Die dazugehörigen Helme bestanden aus einer dünnen, transparenten Folie, die sich durch den Luftdruck im Inneren des Anzuges aufbliesen. Selbst im absoluten Vakuum und der Kälte des Weltraums konnten sie in diesen Anzügen vier oder fünf Stunden überleben; wenn sie sparsam mit ihrer Atemluft umgingen, auch länger.
Aber das spielte im Moment keine Rolle. Ihr Plan basierte auf der Annahme, daß es schnell ging. Skytown hatte keine vier oder fünf Stunden. Vielleicht nicht einmal die halbe Stunde, die sie brauchten, um zur EXCALIBUR zu fliegen und zurückzukommen.
Wenn sie zurückkamen.
»Jetzt«, sagte Hartmann. Mit ein paar schnellen Handgriffen erweckte er den Bordcomputer des Shuttles wieder zum Leben. Nur Sekunden später erwachten auch die Triebwerke des kleinen Transportschiffes. Das Shuttle begann zu beben, schüttelte sich wie ein Pferd, das einen Moment lang gegen das Geschirr ankämpfte, und richtete den stumpfen Bug dann langsam auf den leuchtenden Stern über dem Erdhorizont aus, der die EXCALIBUR darstellte.
Charitys Blick wanderte nervös zwischen den Kontrollen des Shuttle und dem flimmernden Lichtpunkt hin und her. Wenn die Angreifer den Raum zwischen der Erde und der EXCALIBUR mit ihren Ortungsgeräten absuchten, dann mußten sie sie einfach entdecken.
Nichts geschah. Hartmann richtete das Shuttle direkt auf die EXCALIBUR aus und beschleunigte weiter. Eine Minute, zwei... länger, als Charity lieb war. Aber sie sagte nichts. Hartmann war der eindeutig bessere Pilot von ihnen beiden. Wenn es überhaupt jemandem gelingen konnte, sie unbemerkt zur EXCALIBUR zu bringen, dann Hartmann.
Nach quälenden, endlosen vier Minuten schaltete Hartmann zuerst die Triebwerke und dann sämtliche anderen Geräte an Bord ab. Jäh wurde das Shuttle wieder zu einem Stück leblosem Metall, das sich allenfalls noch durch die Restwärme seiner Triebwerke verraten konnte; ein Umstand, an dem aber nichts zu ändern war.
»Wir sind auf Kurs«, sagte Hartmann überflüssigerweise. »ETA in neunzehn Minuten.«