Dem Pilot des Rochenschiffes blieb jedoch nicht genug Zeit, auf solche Feinheiten zu achten. Raumgefechte bestehen im allgemeinen aus neunundneunzig Prozent Langeweile - endlose Minuten, wenn nicht sogar Stunden, in denen man nach dem Feind suchte oder sich ihm allmählich näherte, ohne irgend etwas anderes tun zu können, als die Instrumente anzustarren und zu versuchen, die eigene Phantasie im Zaum zu halten, die einem in immer neuen Variationen zeigte, was bei dem bevorstehenden Kampf alles schief gehen konnte.
Das Gefecht selbst lief dann manchmal in Bruchteilen von Sekunden ab. Obwohl moderne Raumjäger zum allergrößten Teil von Computern manövriert und beherrscht wurden, war die Waffenkontrolle doch dem Menschen vorbehalten. Niemand, nicht einmal ein Hardliner wie Harris, wäre jemals auf die Idee gekommen, die Entscheidung über Leben und Tod einer Maschine zu überlassen.
Zumindest war das bei irdischen Raumjägern so.
Bei außerirdischen offensichtlich auch, wie Charity in der nächsten Sekunde klar wurde.
Der Pilot des Rochenschiffes verschwendete keine Zeit damit, erst nachzusehen, ob das Shuttle mit einer tödlichen Waffe oder einem harmlosen Lichtstrahl auf ihn schoß, sondern feuerte sofort zurück.
Charity konnte die Schießbahn der Waffe selbst nicht sehen, aber dafür war ihre Wirkung um so spektakulärer: Der gesamte Bug des Shuttle leuchtete plötzlich dunkelrot auf, begann dann gelb und schließlich weiß zu strahlen, und in der nächsten Sekunde explodierte das kleine Schiff in einer grellen Feuersalve.
Charity schloß geblendet die Augen und betete, daß keiner der Millionen glühender Trümmerstücke zielsicher genug in ihre Richtung fliegen mochte, um ihrem Unternehmen ein vorzeitiges Ende zu bereiten.
Als sie die Augen wieder öffnete, war das Shuttle verschwunden. Eine Wolke rasch verblassenden Gases zeigte die Position an, an der es sich befunden hatte, und das All war voller glühender Trümmerstücke, die jedoch zum Großteil den ursprünglichen Kurs des Schiffes beibehielten. Das Rochenschiff raste mit unverminderter Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Wahrscheinlich versuchte der Pilot den Kurs des Shuttle zurückzuverfolgen und hielt nach weiteren Angreifern Ausschau.
Hartmanns Plan war aufgegangen. Selbst wenn Charity und die beiden anderen jetzt auf irgendeinem Ortungsschirm an Bord der Rochenschiffe auftauchten, waren sie praktisch nicht mehr von irgendeinem der zahllosen Trümmerstücke zu unterscheiden, die auf die EXCALIBUR zurasten.
Während ihr Tornisteraggregat weiter mit aller Macht kämpfte, um ihre Geschwindigkeit aufzuzehren, drehte Charity sich umständlich herum und suchte nach Hartmann und Skudder.
Hartmann war ganz in der Nähe, doch Skudder hatte sich bereits ein gutes Stück entfernt. Sie alle waren mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Shuttle gestartet, aber offenbar hatte Skudder seinen Absprungwinkel falsch berechnet. Charity wollte ihm über Funk eine Warnung zurufen, aber dann sah sie, daß er bereits dabei war, seinen Kurs mit vorsichtigen kleinen Schüben aus den Korrekturdüsen zu ändern. Außerdem hatten sie verabredet, den Funk nur im äußersten Notfall zu benutzen.
Skudder hob die Hand und streckte den Daumen nach oben, zum Zeichen, daß alles in Ordnung war. Obwohl Charity das Gefühl hatte, sich dabei ziemlich lächerlich zu machen, erwiderte sie die Geste. Vielleicht aber war Zweckoptimismus die stärkste Waffe, die sie hatten.
Sie wurden immer langsamer, während sie sich dem Schiff näherten. Die EXCALIBUR wuchs vor ihnen heran, wurde größer und größer und füllte schließlich eine Hälfte des Universums vollkommen aus. Das Schiff maß vom Bug bis zum Heck annähernd achthundert Meter; eine Zahl, die sich relativ klein anhörte, aber zu etwas Ungeheuerlichem heranwuchs, wenn man sich einem Gebilde dieser Größe näherte.
Charity und die anderen trafen dicht nebeneinander auf dem Rumpf der EXCALIBUR auf, noch immer viel zu schnell, so daß sie alle drei stürzten und Charity vor Schmerz aufschrie. Aber sie spürte auch, daß sie sich nichts gebrochen hatte. Schmerzen zu ertragen oder einfach zu ignorieren, hatte sie gelernt.
Trotzdem mußte sie die Tränen wegblinzeln. Neben ihr richteten Hartmann und Skudder sich unsicher auf; ihren umständlichen Bewegungen nach zu urteilen, war ihre Landung nicht sanfter gewesen als die Charitys.
Trotzdem hob Skudder rasch erneut den Daumen zu seiner albernen alles-in-Ordnung Geste. Diesmal verzichtete Charity jedoch darauf, sie zu erwidern. Statt dessen deutete sie zum Heck der EXCALIBUR, wandte sich um und ging los. Die magnetischen Sohlen ihrer Stiefel ermöglichten es ihr, über den Rumpf des Schiffes zu gehen, statt in der Schwerelosigkeit sofort den Halt zu verlieren; sie machten das Gehen aber auch mühsam und schwierig.
Sie brauchten länger als erwartet, bis sie jenen Teil des Schiffes erreichten, an dem die Außenhaut noch nicht fertiggestellt war.
Hartmann deutete nach unten. Die fünfzehn Zentimeter dicke Metallplatte, die nun die äußerste einer ganzen Anzahl übereinandergeschichteter Panzerplatten bildete, endete wie abgeschnitten unmittelbar vor ihren Füßen. Darunter gähnte ein gut achtzig Meter tiefer Abgrund: die nach oben noch offene Halle, die eines der sechs gigantischen Staustrahl-Triebwerke aufnehmen würde.
Es erwies sich als gar nicht so einfach, nach unten zu gelangen. Sie konnten nicht springen, weil sie in der Schwerelosigkeit bestenfalls einfach im Nichts hängengeblieben wären, und ihre Antriebstornister waren restlos leergebrannt. So ließ Charity sich in die Hocke sinken, drehte sich herum und schob sich rücklings über die Kante, bis die übereinander-geschichtete Sandwich-Panzerung vor ihrem Helm nach oben wegglitt und sie reglos unter der nicht vorhandenen Hallendecke schwebte. Mit einem kräftigen Ruck stieß sie sich ab, schoß kerzengerade in die Tiefe und landete diesmal, ohne zu stürzen. Skudder und Hartmann folgten ihr auf die gleiche Weise.
Die Halle war trotz ihrer verlockenden Größe vollkommen leer. Als Charity das letzte Mal hiergewesen war, hatte sie als zusätzlicher Lageraum gedient. Vermutlich stand der Einbau der Triebwerke kurz bevor.
Hartmann deutete auf eine Tür am anderen Ende und ging los. Auch hier unten herrschte vollkommene Schwerelosigkeit, was das ungute Gefühl in Charity verstärkte. Zumindest im Inneren des Schiffes sollte eigentlich künstliche Schwerkraft herrschen.
Sie erreichten die Tür. Charity und Hartmann zogen ihre Waffen und wichen nach rechts und links zur Seite, während Skudder den Code eingab und geduckt darauf wartete, daß die Schleusenkammer aufschwang. Keiner von ihnen wäre überrascht gewesen, wären sie von einem halben Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Aliens erwartet worden.
Doch die Kammer war leer. Skudder schlüpfte rasch hinein, warf einen Blick durch das winzige Fenster in der Tür auf der gegenüberliegenden Seite und winkte dann den anderen, ihm zu folgen.
Sie huschten in die Schleuse, verriegelten die Tür und warteten ungeduldig, bis der Druckausgleich hergestellt war und die innere Tür aufschwang.
Daß irgend etwas nicht stimmte, spürte Charity im gleichen Moment.
Die Luft war zu dünn, viel zu kalt und von einem intensiven Brandgeruch erfüllt. Auch auf der anderen Seite der Schleuse herrschte Schwerelosigkeit, und irgendwo weit vor ihnen schien ein Kampf zu toben.
Instinktiv packte Charity ihre Waffe fester, ehe sie sich an die Worte erinnerte, die Hartmann ihnen eingeschärft hatte. Sie waren nicht hier, um zu kämpfen, sondern um ein Schiff zu stehlen und Skytown zu verteidigen; und sollte dies nicht möglich sein, um Hilfe zu holen.
»Wohin?« flüsterte Skudder.
Hartmann deutete nach rechts. »Die dritte Tür. Der Hangar liegt zwei Decks tiefer, aber ich halte es für keine gute Idee, den Aufzug zu benutzen.«