»Jetzt nicht«, sagte Charity rasch. »Hier stimmt etwas nicht.«
»Ich sehe es«, antwortete Skudder. Er wirkte sehr konzentriert. In seiner Stimme war nicht mehr die Spur von Vorwurf oder Tadel. »Was geht da vor?«
»Gib mir eine Minute, und ich sage es dir«, antwortete Charity. »Ich -«
Sie brach ab. Inmitten der Trümmer vor ihr bewegte sich etwas. Sie konnte keine Umrisse erkennen, nur ein rasches Aufflackern von Bewegungen, aber das war alles, was sie brauchte. Der Jet überwand die restliche Distanz mit einem einzigen Satz, kam ruckartig zum Stehen, und Charity sah aus fünfzig Metern Höhe endlich, was wirklich geschah. Ihre Reaktion darauf bestand in einem nicht gerade damenhaften Fluch.
»Was ist?« fragte Skudder alarmiert.
»Wanzen«, antwortete Charity. »Verdammte Scheiße! Wanzen!«
Fünfzig Meter unter ihr tobte ein verzweifelter Kampf. Aus dem Dutzend toter Leuchtpunkte war eine Gruppe zerlumpter Gestalten geworden, Männer, Frauen und Kinder, die selbst aus fünfzig Metern Höhe einen erbärmlichen Eindruck machten. Die Gruppe hatte sich, so gut es ging, in einer Ruine verschanzt und wehrte sich mit Stöcken, Knüppeln und Eisenstangen gegen irgend etwas, das Charity aus der Höhe nur als weißes Gewusel erkennen konnte. Mehr war aber auch nicht nötig. Sie wußte nur zu gut, was sie vor sich hatte.
»Bleib, wo du bist«, sagte Skudder. »Ich schicke ein SWAT-Team. Sie sind in drei Minuten da!«
»So lange kann ich nicht warten«, antwortete Charity. »Beweg deinen Hintern hierher. Ich gehe auf Wanzenjagd. Ende und aus.«
»Aber -«
Charity schaltete den Monitor ab. Sie konnte keine drei Minuten warten. Nicht mal eine. Die Lage unter ihr spitzte sich zu. Die Wanzen überrannten die verkohlten Mauerreste ohne die geringste Mühe und fielen über das Dutzend Männer und Frauen her. Die Verteidiger wehrten sich mit verbissener Wut und einem Geschick, das Charity erkennen ließ, daß sie es nicht zum ersten Mal mit diesen Kreaturen zu tun hatten. Doch am Ausgang des Kampfes bestand trotzdem nicht der geringste Zweifel. Die Übermacht war einfach zu groß, und die Wanzen kämpften mit der mechanischen Gnadenlosigkeit von Insekten, die weder Schmerzen noch Furcht kannten.
Charitys Gedanken überschlugen sich, während der Jet wie ein Stein in die Tiefe stürzte. Das Problem bestand darin, daß sie nicht allzuviel unternehmen konnte. Der Jet verfügte über genügend Feuerkraft, um einen kleinen Mond einzuäschern, aber ihre Bordwaffen nutzten Charity gar nichts. Sie hätte die beiden kleinen Laser eng genug fokussieren können, um gezielte Einzelschüsse auf die Wanzen abzugeben, ohne jedes Leben im Umkreis von fünfzig Metern auszulöschen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Selbst wenn sie dem Computer diese Aufgabe übertrug, würde es Minuten dauern, um auch nur die Hälfte der Biester zu erledigen.
Sie konnte nur eines tun. Skudder würde der Schlag treffen, wenn er ihr Manöver an seinen Kontrollen verfolgte, aber das war jetzt egal. Es ging um ein Dutzend Menschenleben.
Der Jet stürzte weiter in die Tiefe. Charity sah, wie die Köpfe einiger Männer und Frauen im letzten Moment herumruckten und sich ein Ausdruck verblüfften Entsetzens auf ihren Gesichter ausbreitete, als sie das heulende Ungeheuer wie einen aus der Bahn geworfenen Mond auf sich herabstürzen sahen.
Dann traf die Säule komprimierter Luft, die das Schiff vor sich herschob, mit der Gewalt eines Hammerschlages auf den Boden. Menschen, Wanzen, Steine und Staub wurden in die Höhe geschleudert und davongewirbelt, und für eine oder zwei Sekunden konnte Charity rein gar nichts mehr erkennen. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Notfallautomatik das Schiff abfangen würde, bevor sie sich selbst eine halbe Meile tief in den Boden rammte, löste mit der linken Hand den Sicherheitsgurt und hämmerte die andere auf einen großen, sechseckigen Schalter unmittelbar vor sich.
Alles geschah gleichzeitig. Der Jet kam mit einem so brutalen Ruck zum Stehen, daß Charity trotz der Trägheitsdämpfer aus dem Sitz gerissen und gegen das Pult geschleudert wurde, und eine zweite, womöglich noch heftigere Druckwelle fegte über den Boden. Gleichzeitig flammten Staub, Trümmerstücke und davongeschleuderte Wanzen entlang einer perfekten Kreislinie rings um das Schiff herum auf. Für einen winzigen Moment schien die Ruine unter einer giftgrünen, leuchtenden Halbkugel zu verschwinden, aus der immer wieder Blitze und grelle Flammen schlugen.
Charity rappelte sich mühsam hoch und warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Der Jet hing schwerelos drei Meter über den Boden, und die Luft war noch immer so voller Staub und hochgewirbeltem Dreck, daß sie praktisch nichts erkennen konnte. Immerhin sah sie, daß zumindest der erste Teil ihres Planes funktioniert hatte. Die Schutzschirme des Jet hatten sich entfaltet und bildeten eine undurchdringliche Barriere rings um das Schiff und die Ruine. Der Durchmesser dieses Todeskreises betrug etwas weniger als dreißig Meter. Charity betete darum, daß es reichte.
Mit einer hastigen Bewegung wandte sie sich um, eilte zum Ausgang und schlug auf den Schalter, mit dem das Schott geöffnet wurde. Die Irisblende schob sich mit enervierender Langsamkeit auseinander. Staub und trockene Luft, die zum Husten reizte, wirbelten ins Innere, gefolgt von einem Chor gellender Schmerz- und Schreckensschreie, dem Prasseln von Flammen und einer Aufeinanderfolge dumpfer, sonderbar weich klingender Explosionen.
Charity zwängte sich durch die Öffnung. Sie wartete nicht ab, bis die Rampe sich unter ihr entfaltet hatte, sondern überwand die drei Meter bis zum Boden mit einem Sprung, fiel, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und zog noch im Aufspringen ihre Waffe.
Im allerersten Moment gab es allerdings nichts, worauf sie hätte schießen können.
Sie war so gut wie blind. Die Luft war dermaßen voller Staub, daß sie kaum zu atmen vermochte. Rings um sie herum waren nur Schatten und tanzende Bewegungen.
Plötzlich sah sie etwas Kleines, Weißes, das wie ein Gummiball auf sie zuhüpfte. Instinktiv hob sie die Waffe, drückte jedoch nicht ab, sondern schlug statt dessen mit der flachen Hand auf den postkartengroßen Schalter, der ihre Gürtelschnalle bildete. Die Wanze prallte gegen ihre Schulter und ließ sie taumeln. Aber das Raubinsekt bezahlte die Attacke auch mit dem Leben. Charitys Körperschild verbrannte sie zu Asche.
Charity taumelte herum, stolperte mehr blind als sehend in das wirbelnde graue Chaos hinein und wurde mit einem doppelten Auflodern belohnt, als zwei weitere Wanzen an ihrem Körperschild verglühten. Dann war sie aus dem Schlimmsten heraus und konnte wieder sehen.
Doch was sie sah, erleichterte sie nicht.
Im Gegenteil.
Der Kampf war keineswegs vorbei.
Die Druckwelle hatte die viel leichteren Insekten ungleich weiter davongeschleudert als die menschlichen Verteidiger, aber eben nicht alle; nicht einmal annähernd so viele, wie Charity insgeheim gehofft hatte. Das Dutzend zerlumpter Gestalten wehrte sich noch immer verzweifelt gegen eine hoffnungslose Übermacht katzengroßer, sechsbeiniger Scheusale, die nur aus Scheren und messerscharfen, schnappenden Mandibeln zu bestehen schienen. Mindestens zwei Männer lagen reglos am Boden, bewußtlos oder tot, und nur ein paar Meter neben ihr wehrte sich eine alte Frau verzweifelt gegen gleich vier Wanzen, die sie eingekreist hatten. Charity erschoß zwei der Ungeheuer, schleuderte ein drittes mit einem Fußtritt davon und erledigte das letzte mit einem Schlag mit der flachen Hand. Die Wanze flammte auf und verbrannte, und die alte Frau taumelte mit einem erschöpften Seufzen zurück und fiel auf die Knie.
Charity war mit einem Satz an ihr vorbei, suchte nach einem neuen Ziel und jagte ein halbes Dutzend Laserblitze in eine wuselnde weiße Masse, die sich auf einen der reglos daliegenden Männer zu bewegte. Die Wanzen verbrannten oder explodierten mit sonderbar weichen, dumpfen Lauten.
Charity schoß weiter. Drei, vier Wanzen versuchten sie anzuspringen und verkohlten an ihrem Körperschild. Sie taumelte zur Seite, erschoß drei, vier weitere Wanzen und sprang einem Mann bei, der gleich von einem halben Dutzend der gefräßigen Insekten attackiert wurde.