»Oder in eine ausweglose Situation gerät«, fügte Skudder hinzu.
Harris nickte. »Möglicherweise finden wir jetzt einen Anzug, bei dem diese Automatik nicht funktioniert hat. Aber bis dahin sind wir auf Vermutungen angewiesen.«
»Das reicht mir nicht«, beharrte Drasko. »Sie lassen keine Gelegenheit aus, uns in den schwärzesten Farben darzulegen, wie überlegen uns diese Fremden sind, aber gleichzeitig wissen Sie nicht einmal, mit wem wir es zu tun haben!«
»Warum nehmen Sie sich nicht ein Schiff und fliegen los, um es herauszufinden?« schlug Skudder vor. »Ich helfe Ihnen gern, eine weiße Fahne an die Antenne zu binden. Vielleicht nutzt es ja was.«
»Mister Skudder, ich -«
»Meine Herren! Bitte!« Hartmann macht eine Geste, die zugleich entschlossen wie auch unendlich müde wirkte. Dann schaute er demonstrativ auf die Uhr. »Es ist spät geworden. Wir alle haben einen harten Tag hinter uns und sind entsprechend müde, und auch ein bißchen gereizt. Ich schlage vor, daß wir die Sitzung bis morgen früh unterbrechen. Möglicherweise liegen uns bis dahin schon neue Erkenntnisse vor.«
Niemand erhob Einspruch. Die meisten Anwesenden waren im Gegenteil sichtlich froh über Hartmanns Vorschlag. Nur Skudder und Drasko starrten sich gegenseitig fast haßerfüllt an. Charity konnte Skudder sogar verstehen. Er verachtete, ja, haßte Politiker beinahe ebenso wie sie selbst, und Skudder war nie ein Mann gewesen, der irgendeinen Hehl aus seinen Gefühlen gemacht hatte.
Was Charity hingegen nicht ganz begriff, war Draskos Feindseligkeit. Selbst sechzehn Stunden nach dem Überfall standen alle hier Anwesenden noch unter dem Schock der Ereignisse, aber selbst der Starrsinnigste hätte eigentlich begreifen müssen, daß sie es mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hatten. Draskos Benehmen war schlichtweg unlogisch.
Aber vielleicht war es einfach nur Panik - Draskos Art, seiner Hysterie Ausdruck zu verleihen.
Hartmann wartete zwei oder drei Sekunden vergeblich auf eine Antwort, dann stand er ohne ein weiteres Wort auf und verließ den Raum, und kurz darauf auch die meisten anderen.
Charity, Skudder und Harris blieben noch, und für einen Moment sah es so aus, als wolle auch Drasko bleiben, um seinen sinnlosen Streit mit Skudder fortzusetzen. Doch zu Charitys Erleichterung erhob er sich schließlich ebenfalls und verließ den Raum.
Skudder blickte ihm mit finsterem Gesicht nach, aber er sparte sich die Mühe, einen weiteren Kommentar abzugeben. Statt dessen wandte er sich an Harris. »Wie viele Feindschiffe habt ihr erwischt?«
»Vier Stingrays und einen Transporter«, antwortete Harris. »Als sie gemerkt haben, was los ist, waren sie blitzschnell verschwunden.«
»Stingrays?«
»Ich fand den Namen passend.« Harris zuckte mit den Schultern und deutete ein Lächeln an, wurde aber sofort wieder ernst. »Sie haben sofort reagiert. Und sie haben nicht einmal versucht, ihre Leute zu retten.«
Er ballte die Hand zur Faust, als wolle er sie auf den Tisch hämmern, tat es dann aber doch nicht, sondern betrachtete nur nachdenklich seine Knöchel. »Ich habe schon eine Menge erlebt, aber ich bin noch nie auf Soldaten gestoßen, die so kämpfen. Selbst die Ameisen waren harmlos gegen sie.«
»Ich weiß«, sagte Skudder. »Wir hatten ebenfalls das Vergnügen.«
»Aber ihr habt sie besiegt.« Harris' Gesicht verdüsterte sich. »Ich habe gesehen, wie einer von ihnen acht Marines auseinandergenommen hat. Mit bloßen Händen. Ich bin nicht sicher, daß es sich wirklich um Menschen handelt.«
»Das klang vorhin anders«, sagte Skudder.
Harris wiederholte sein beiläufiges Achselzucken. »Ich denke, es ist vielleicht besser, wenn wir nicht alles gleich an die große Glocke hängen.«
»Was genau soll das heißen?« fragte Charity.
Doch sie kannte die Antwort. Sie hatte den gleichen Gedanken schon selbst gehabt, aber er war so absurd - und erschreckend - daß sie sich einfach weigerte, sich länger als eine Sekunde damit zu beschäftigen.
»Soll das etwa heißen, wir haben einen Verräter unter uns?« Skudder schüttelte den Kopf. »Das hier ist der Rat, Harris. Die Regierung. Glaubst du wirklich, daß irgend jemand hier mit den Fremden zusammenarbeitet?«
»Das habe ich nicht gemeint«, verteidigte sich Harris. »Aber wir sollten vielleicht nicht mehr ganz so laut über alles reden. Wenigstens so lange nicht, bevor wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Wo wir schon dabei sind«, sagte Charity. »Da ist etwas, das ich bisher noch nicht erzählt habe. Als ich den Transporter enterte, habe ich zwei der Fremden erschossen.«
Skudder blickte sie überrascht an. Auch für ihn war diese Geschichte neu. Charity war bisher einfach nicht dazu gekommen, sie zu erzählen.
»Mit einer Kanone?« fragte Harris.
»Ich weiß selbst nicht genau, wie«, gestand Charity. »Sie hätten mich spielend erledigen können. Aber sie haben es nicht getan.«
»Wieso?« fragte Skudder.
Charity blieb ihm die Antwort schuldig. Sie hatte die kurze Szene mindestens ein Dutzendmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren lassen, doch es gelang einfach nicht, das Gefühl in Worte zu fassen, das sie dabei empfand. Sie hatte den Schock gespürt, den ihr Anblick den beiden Fremden bereitet hatte, aber da war noch mehr. Trotz allem hatte auch sie in der unmittelbaren Nähe der Fremden irgend etwas auf schreckliche Weise... Vertrautes empfunden.
Sie wechselte bewußt das Thema. »Hartmann hat recht. Es ist spät geworden. Wenigstens ist es für mich zu spät, um noch irgendwelche Gespräche zu führen, die uns weiterbringen könnten. Ihr beide könnt gern noch ein bißchen fachsimpeln, aber ich für meinen Teil ziehe mich zurück.«
Sie stand auf. Skudder wollte es ihr gleichtun, aber Charity warf ihm einen raschen Blick zu, den er gottlob richtig deutete. Sie hatte nicht die Absicht, schlafen zu gehen.
»Ich komme dann später nach«, sagte Skudder. Als Charity den Raum verließ, waren Harris und er bereits wieder in ein intensives Gespräch vertieft.
Sie ging zum Lift, drückte den Knopf für das Erdgeschoß, besann sich dann aber anders und stieg eine Etage tiefer bereits wieder aus. Kalter Wind und ein schwacher Brandgeruch schlugen ihr entgegen, als sie die Aufzugkabine verließ.
Auch dieses Gebäude hatte mehrere Treffer abbekommen.
Das Fenster am Ende des langen Korridors war geborsten, der Teppichboden und ein Teil der Wandbekleidung aus Kunststoff geschmolzen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das zersplitterte Fenster irgendwie abzusichern, oder auch nur den Schutt wegzuräumen.
Der Anblick erfüllte Charity mit einer Mischung aus Ohnmacht und Wut. Sie hatten acht endlose Jahre gebraucht, um diese Stadt aus den Ruinen einer zerstörten Welt wieder aufzubauen, acht Jahre, die nur aus Arbeit, Enttäuschung, Rückschlägen und noch mehr Arbeit bestanden hatten. Weniger als eine Stunde hatte gereicht, um einen Großteil dieser Arbeit und Mühe wieder zunichte zu machen.
Warum? Die Erde war ein verheerter Planet, eine verwüstete Welt, der in fünfzig Jahren Besatzungszeit nicht nur neunzig Prozent ihrer Bevölkerung, sondern auch der größte Teil ihrer Bodenschätze genommen worden waren. Es gab hier nichts, was für außerirdische Invasoren noch von großem Interesse sein konnte.
Nichts, außer der Erde selbst.
Die Menschheit hatte nie die Chance bekommen, die Grenzen ihres heimatlichen Sonnensystems zu überschreiten, aber aus dem, was die Moroni nach ihrer Niederlage zurückgelassen hatten, wußten sie, daß bewohnbare Welten zu den kostbarsten Gütern im Universum gehörten. Viele Sonnen hatten Planeten, aber nur sehr wenige davon bewegten sich vielleicht in dem schmalen Bereich zwischen höllischer Hitze und tödlicher Kälte, in dem Leben nach menschlichen Maßstäben möglich war.