Waren die Fremden gekommen, weil sie Lebensraum brauchten, so wie damals die Insektenkrieger von Moroni?
Charity schüttelte den Gedanken ab. Sie würden die Antwort herausfinden, so oder so. Und wahrscheinlich sogar eher, als ihnen allen jetzt schon bewußt war.
Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich um und ging in die entsprechende Richtung los. Hartmanns Büro lag am entgegengesetzten Ende des Korridors. Die Tür war geschlossen, aber darunter schimmerte ein blasses, unregelmäßig flackerndes Licht, und Charity hörte ein gedämpftes Rumoren und Poltern.
Sie trat ein, ohne anzuklopfen.
Das große, normalerweise pedantisch aufgeräumte Büro bot einen chaotischen Anblick. Zwei der vier Fenster waren zerborsten. Charity konnte keine Spuren von Feuer entdecken, aber die Druckwelle hatte mindestens ebenso großen Schaden verursacht, wie ein Brand hätte anrichten können. Sämtliche Möbel waren umgestürzt und zum Teil zerbrochen, hatten Bilder von den Wänden gefegt, und ein Teil der Deckenverkleidung war abgerissen, so daß das Gewirr von Rohrleitungen und Kabel zum Vorschein kam, das normalerweise darunter verborgen war.
Die Lampe flackerte in regelmäßigen Abständen; manchmal explodierten Kaskaden winziger Funken aus der Fassung. Selbst Hartmanns schwerer Schreibtisch war auf die Seite gestürzt. Die Papiere, die normalerweise in präzise ausgerichteten Stapeln darauf lagen, waren überall im Zimmer verteilt. Hartmann hockte inmitten dieses Chaos auf den Knien, sammelte mit mechanischen Bewegungen Papierfetzen ein und versuchte sie auf dem Boden glattzustreichen. Seine Hände zitterten heftig, und das flackernde Licht zerhackte seine Bewegungen in eine stroboskopische Pantomime.
Charity trat mit einem langsamen Schritt hinter ihn und streckte die Hand aus. Sie zögerte, Hartmann zu berühren, und als sie es tat, spürte sie, daß nicht nur seine Hände zitterten. Er bebte am ganzen Leib.
»Durcheinander«, murmelte er. »Es ist alles durcheinander. Sieh dir dieses Chaos an! Ich werde Wochen brauchen, um hier wieder Ordnung zu schaffen!«
Seine Bewegung wurde heftiger, zielloser. Charity fragte sich, ob nun der Zusammenbruch kam, auf den sie schon den ganzen Tag wartete. Hartmann hatte bis jetzt mit keinem Wort, ja, nicht einmal mit irgendeiner Geste oder Mine auf den Tod Nets und seiner Kinder reagiert. Doch irgendwann einmal mußte seine Kraft aufgebraucht sein.
Wahrscheinlich war es jetzt soweit.
»Hartmann...«, begann Charity, brach aber wieder ab, als Hartmann mit einem Ruck den Kopf hob und sie anstarrte. Sein Blick schien geradewegs durch sie hindurch zu gehen.
Er hörte auf, Papier von einer Seite auf die andere zu sortieren.
»Warum haben sie das getan?« murmelte er.
»Es war so... unnötig.«
Charity konnte nicht antworten. In ihrem Hals saß ein bitterer, harter Kloß, der ihr das Atmen schwer machte und jedes Wort erstickte. Niemand wußte die Antwort auf Hartmanns Frage. Selbst wenn es den Fremden darum gegangen war, nicht lebend in Gefangenschaft zu geraten, wäre es nicht nötig gewesen, ganz Skytown mit in den Tod zu reißen, wie das Schicksal ihrer Kameraden an Bord der abgeschossenen Schiffe und am Boden bewiesen hatte. Skudder, Harris und die meisten anderen glaubten, daß es sich um einen reinen Terrorakt handelte, aber Charity war nicht ganz dieser Meinung. Vielleicht hatten die Fremden einfach nur zeigen wollen, wie weit sie zu gehen bereit waren.
»Es ist so sinnlos«, fuhr Hartmann fort, so leise, daß Charity die Worte kaum verstand. »Sie hat niemandem etwas zuleide getan.«
»Das haben wir alle nicht«, antwortete Charity. Die Worte klangen billig und dumm. Sie spendeten keinen Trost - und wie konnten sie das auch? Hartmann hörte sie wahrscheinlich gar nicht.
»Sie hat alles überstanden, weißt du?« sagte Harrmann. »Die Wastelands. Die Moroni und... und die Shaits. Die halbe Galaxis hat sie gejagt, aber keiner konnte sie kriegen. Damals, als... als Jack und Christopher geboren wurden, wäre sie beinahe gestorben. Wir haben es niemandem gesagt, auch dir nicht. Sie wollte es nicht, weiß du? Aber die Schwangerschaft war äußerst riskant. Niemand konnte sagen, ob sie die Geburt überleben würde oder nicht. Aber sie hat auch das überlebt. Sie hat alles geschafft, und jetzt... jetzt sind sie tot. Alle. Warum?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Charity leise. »Aber die Fremden werden dafür bezahlen, das verspreche ich dir.«
Irgend etwas in Hartmanns Gesicht veränderte sich. Zum erstenmal hatte Charity das Gefühl, daß er ihre Anwesenheit überhaupt registrierte.
»Das macht sie auch nicht mehr lebendig«, sagte er.
»Aber vielleicht können wir wenigstens verhindern, daß noch mehr unschuldige Menschen sterben«, entgegnete Charity.
»Niemand wird irgend etwas verhindern, Charity«, sagte Hartmann bitter. »Sie sind uns überlegen. Wir hatten Glück, mehr nicht. Vielleicht sollten wir gar nicht gewinnen.«
Plötzlich hatte sie Angst um Hartmann. Sie hatte ihn noch nie so reden hören. Das war nicht der Hartmann, den sie kannte. Charity hatte gar nicht gewußt, daß das Wort Resignation zu seinem Vokabular gehörte.
Er hatte jedes Recht der Welt, verbittert und verzweifelt zu sein, und trotzdem erschreckte sie die Tiefe seiner Reaktion.
Hartmann war einer der stärksten Männer, denen sie jemals begegnet war. Vielleicht war der Zusammenbruch nun um so heftiger.
»Du wirst jetzt nicht aufgeben!« sagte sie ruhig. »Hast du verstanden? Wir alle trauern um Net. Sie war meine beste Freundin, und ich habe die beiden Jungen geliebt, als wären es meine eigenen Kinder. Aber ich werde nicht aufgeben, und du wirst es auch nicht, verstanden? Du wirst mir verdammt noch mal helfen, diese Monster dahin zurück zu jagen, wo sie hergekommen sind. Ich brauche dich dazu, Hartmann. Ohne dich schaffe ich es nicht! Wir sind viel zu wenige geworden. Ich kann es mir nicht leisten, dich auch noch zu verlieren!«
Hartmann starrte sie an. Ein anderer, nicht zu deutender Ausdruck trat in seine Augen, der Charity schaudern ließ.
Bevor Hartmann irgend etwas sagen konnte, gellten die Alarmsirenen durch das Gebäude.
Hartmann schaltete im Bruchteil einer Sekunde. Noch während sie auf die Füße sprangen, verschwand der verbitterte Ausdruck von seinem Gesicht und machte der alten Entschlossenheit und Härte Platz.
Sie stürmten aus dem Büro und rannten zum Aufzug. Das Gellen der Alarmsirenen hielt an, und draußen gesellten sich weitere, wimmernde Töne hinzu.
Charitys Armbandfunkgerät meldete sich, als die Kabine losfuhr.
»Charity, wo bist du?« erklang Skudders Stimme.
»Im Aufzug. Auf dem Weg nach unten. Hartmann ist bei mir. Was ist los?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Skudder. »Die Ortung hat ein Schiff erfaßt. Es kommt näher. Sehr schnell.«
Charity und Hartmann tauschten einen besorgten Blick.
»Ein Schiff der Fremden?«
»Ein Rochenschiff«, bestätigte Skudder. »Seine Schutzschirme sind ausgeschaltet, aber es reagiert auf keinen Funkspruch.«
Charitys Blick huschte nervös über die blinkenden Lichter des Aufzuges. Die Kabine war schnell, aber sie schien sich trotzdem nur im Schneckentempo zu bewegen.
»Wann wird es hier sein?« fragte sie.
»In einer Minute«, schätzte Skudder. »Vielleicht zwei. Beeilt euch. Wir treffen uns vor dem Gebäude.«
Er schaltete ab. Charity ließ den Arm sinken und verfolgte wie hypnotisiert den flackernden Countdown der Liftanzeige.
Die Minute, von der Skudder gesprochen hatte, war lange vorüber, als die Kabine endlich anhielt und die Türen aufglitten. Hartmann und Charity prallten unsanft zusammen, als sie beide gleichzeitig versuchten, aus der Kabine zu stürmen. Charity kämpfte ungeschickt um ihr Gleichgewicht, fand die Balance mit einem raschen Schritt wieder und rannte durch die mit Trümmern und Glasscherben übersäte Eingangshalle.