Immerhin sah sie, daß sie auf dem richtigen Weg war. Auf dem Boden glitzerten Stücke von weißem, zersplittertem Chitin, hier und da ein abgerissenes Bein, eine zerbrochene Mandibel... die übliche Spur, die ein Heereszug der Raubwanzen hinterließ. Rücksicht auf Artgenossen wurde bei den Killerinsekten nicht besonders groß geschrieben. Wer nicht schnell genug war oder das Pech hatte, über seine eigenen Beine zu stolpern, wurde niedergetrampelt oder gleich aufgefressen. Güte und Gnade, Zuneigung und Mitleid - solche Empfindungen waren diesen Kreaturen völlig fremd.
Charity warf einen letzten, enttäuschten Blick in den Himmel. Von Skudders Kavallerie war noch immer nichts zu sehen.
Wir haben ein Kommunikationsproblem, dachte sie sarkastisch. Sobald sie wieder in der Basis war, würde sie sich mit Skudder dringend über die Bedeutung der Worte drei Minuten unterhalten müssen.
Falls sie wieder in die Basis zurückkam.
Charity zog ihre Waffe, löste den Handscheinwerfer vom Gürtel und schaltete ihn ein. Der weiße, scharf gebündelte Strahl riß einen Streifen fast schon unangenehmer Helligkeit aus der Schwärze, die den Tunnel erfüllte. Die Dunkelheit dahinter schien dadurch nur noch bedrohlicher und unheilverkündender zu werden.
Charitys Herz begann zu klopfen. Sie ging weiter, bewegte sich aber weniger schnell, als sie vorgehabt hatte, und die Lampe in ihrer Hand zitterte.
Der Spur der Wanzenarmee zu folgen, war nicht besonders schwer. Überall lagen Stücke zerbrochener Insektenpanzer, und einmal fand sie sogar ein verletztes Tier, das noch lebte; wenigstens so lange, bis sie weiterging.
Der Stolleneingang und das Tageslicht blieben rasch hinter ihr zurück. Aus dem unguten Gefühl, mit dem Charity den Tunnel betreten hatte, war längst eine zwar nicht lähmende, aber nagende Angst geworden. Ihre Schritte verursachten hallende, unheimlich verzerrte Echos an den unsichtbaren Wänden des Tunnels, und sie war jetzt sicher, huschende Bewegung in der Schwärze jenseits des Scheinwerferlichts zu spüren.
Es war Wahnsinn gewesen, hierher zu kommen. Sie hatte keine Chance, das Kind zu finden. Dafür hatten die Wanzen alle Chancen, sie zu finden.
Trotzdem ging sie weiter. Langsam, aber ohne anzuhalten. Es war viel zu spät, jetzt noch umzukehren.
Nach einer Weile tauchte etwas Großes, Glitzerndes im Licht ihres Handscheinwerfers auf. Charity blieb für einen Moment stehen, ging dann langsamer weiter und brauchte noch fast ein Dutzend Schritte, um zu erkennen, worauf sich das Licht brach: Auf den verrosteten Schienen vor ihr stand ein uralter Zug. Der Lack war längst abgeblättert oder unter einer einheitlichen grauen Staubschicht verschwunden, die vermutlich zur Härte von Beton erstarrt war, und sämtliche Scheiben fehlten. Sonderbarerweise gab es jedoch keinen einzigen Glassplitter, und als Charity sich dem Triebwagen weiter näherte, erkannte sie, daß auch der Boden ringsum seltsamerweise vollkommen aufgeräumt und leer war.
Langsam und vorsichtig näherte sie sich weiter dem Wagen, umrundete ihn in respektvollem Abstand und öffnete schließlich die rückwärtige Tür. Der Lauf ihrer Waffe und der Handscheinwerfer zielten nebeneinander ins Innere des Wagens.
Was Charity in dem grellen Licht sah, das harte Schlagschatten warf, überraschte sie. Es gab im Inneren des Wagens keine Gefahr, aber er war auch nicht leer, oder mit fünfzig Jahre altem Unrat erfüllt, wie sie angenommen hatte. Der Wagen machte einen aufgeräumten, beinahe sauberen Eindruck. Auf einigen der mit brüchig und rissig gewordenen roten Kunstleder bezogenen Bänke lagen zerschlissene Decken und Kissen. Im hinteren Teil des Wagens standen etliche sorgsam aufgestapelte Kisten, deren Inhalt sie nicht zu erraten vermochte, und unweit der Tür entdeckte sie einen kleinen Gasbrenner sowie ein verbeultes Kochgeschirr aus Aluminium. In diesem Wagen hatten Menschen gewohnt. Und sie wußte auch, wer diese Menschen waren.
Charity vergeudete keine Zeit damit, den Wagen eingehender zu inspizieren, sondern schloß die Tür wieder und bewegte sich weiter in den Tunnel hinein. Ihre Entdeckung verwirrte sie. Sie hatte das Versteck jener Menschen gefunden, auf die sie draußen gestoßen war - aber das beantwortete nicht die Frage, wie sie überhaupt hierher gekommen waren.
Sie hatte erst wenige weitere Schritte in die Dunkelheit hinein getan, als der Lichtstrahl erneut auf ein Hindernis stieß. Diesmal war es jedoch kein Wagen, sondern ein Gewirr aus Trümmerstücken, verborgenen Metallträgern und zerborstenem Beton, das den Tunnel nahezu auf der gesamten Breite blockierte. Staub tanzte im Licht des Scheinwerfers, und Charity hörte ein leises, gleichmäßiges Rieseln und Rascheln, als würde Sand durch feine Hohlräume sickern.
Charity hob die Lampe und ließ den Lichtstrahl an der Decke entlangtasten. Der Tunnel war nicht zur Gänze eingestürzt. Durch einen schier unglaublichen Zufall war nur die Betonverschalung abgesprengt. Doch Charity sah auch geschmolzenes und wieder erstarrtes Gestein und verbogene Stahlträger, und der Anblick machte ihr endgültig klar, was hier geschehen war. Irgendwo, nicht weit über diesem Tunnel mußte einer ihrer Laser- oder Vibratorschüsse eingeschlagen sein. Zwanzig oder dreißig Meter weiter den Tunnel hinauf, und hundert Tonnen Stahlbeton und Erdreich wären auf den Triebwagen hinuntergekracht und hätten jedes Leben darin ausgelöscht.
Der Gedanke ließ Charity nicht nur einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, er bestärkte sie auch in ihrer Überzeugung, richtig zu handeln. Sie war es diesen Leuten schuldig, das vermißte Kind zurückzuholen.
Vorsichtig begann sie, über den Berg aus Schutt und Stahltrümmern hinwegzuklettern. Sie war noch immer auf dem richtigen Weg, wie ihr Teile von zerbrochener Panzerung und die leblosen Kadaver von ein, zwei Raubwanzen bewiesen. Die Insektenarmee war hier entlanggezogen. Um besser klettern zu können, steckte Charity die Waffe ein, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Wenn sie den Gipfel des Trümmerberges erreichte und sich unversehens der gesamten Wanzenarmee gegenübersah, dann konnte die Zeit, die sie brauchte, um die Waffe zu ziehen, vielleicht nicht mehr reichen.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Der Tunnel war auf der anderen Seite so leer wie auf dieser. Sie sah nicht einmal mehr die Spuren des Raubzuges. Aber nach einigen Augenblicken hörte sie etwas: Das leise, angsterfüllte Weinen eines Kindes.
Charity erstarrte zur Salzsäule, schloß die Augen und lauschte. Das Geräusch war sehr leise, gerade noch an der Grenze des Hörbaren, so daß sie sich für einen Moment ernsthaft fragte, ob sie den Laut tatsächlich gehört hatte, oder ob er nur ein Produkt ihrer Phantasie gewesen war - ein Geräusch, das sie sich so verzweifelt zu hören wünschte, daß ihr Unterbewußtsein ihr diesen Wunsch erfüllte.
Doch wenn sie weiter hier herumsaß, würde sie es nie herausfinden.
Unendlich vorsichtig begann sie, den Trümmerberg auf der jenseitigen Flanke wieder hinabzusteigen. Unter ihren Füßen lösten sich Steine und Schutt, und das Poltern und Kullern der Miniatur-Lawine verschluckte für Augenblicke das leise Weinen. Am Fuße des Hanges angekommen, blieb Charity erneut stehen und lauschte. Sie brauchte einige Sekunden, um das Geräusch wiederzufinden und zu orten.
Es kam von rechts, nicht weit aus der Tiefe des Stollens heraus, und war jetzt deutlich lauter geworden. Charity schwenkte die Lampe in diese Richtung und entdeckte einen schmalen Seitengang, der früher einmal eine massive Metalltür gehabt haben mußte, jetzt aber wie eine ausgefranste Wunde in der Wand gähnte. Zwei tote Wanzen flankierten den Eingang wie groteske Wächter. Sie war auf dem richtigen Weg.
Charity wechselte den Scheinwerfer von der rechten in die linke Hand, zog ihre Waffe und drang mit klopfendem Herzen in den Tunnel ein. Die Wände schlossen sich wie die Mauern eines Grabes um sie, und ihre Angst wurde schlimmer. Vor wenigen Augenblicken, draußen im Tunnel, hatte sie die Dunkelheit gefürchtet, weil diese als Versteck für den schlimmsten aller Feinde diente: das Unbekannte. In diesem knapp zwei Meter messenden Versorgungstunnel aber war sie wortwörtlich gefangen.