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»Viele«, antwortete Walter zögernd. »Unzählige. Die meisten sind weitergezogen, aber die hier haben uns weggeschleppt.«

Nicht, daß diese Eröffnung Charity auf irgendeine Weise überraschte. Aber trotzdem war sie enttäuscht. Manchmal half es, sich selbst an eine Hoffnung zu klammern, von der man im Grunde ganz genau wußte, wie falsch sie ist.

»Ein Grund mehr, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden«, seufzte sie. Sie machte einen weiteren Schritt auf Melissa und Walter zu, und sofort zuckten die beiden zusammen und versuchten, noch weiter vor ihr zurückzuweichen.

Charity blieb stehen, schloß die Augen und zählte in Gedanken bis fünf. Sie hatte keine Zeit für diesen Unsinn. Sie fühlte sich miserabel, hatte Schmerzen und war zu Tode erschöpft. Der heißgelaufene Schildgenerator an ihrer Seite gab sich alle Mühe, ein Loch in ihre Hüfte zu brennen, und sie blutete aus mindestens einem Dutzend mehr oder weniger tiefer Schnitt- und Bißwunden. Außerdem war da eine Stimme in ihren Gedanken, die immer hartnäckiger behauptete, daß sie sich diesmal wirklich tief in die Scheiße geritten hatte, und daß es dafür absolut keine Entschuldigung gab - toter Mann hin oder her.

Trotzdem klang ihre Stimme so ruhig, daß es sie beinahe selbst erstaunte, als sie fortfuhr: »Ganz egal, was ihr von mir haltet oder über mich zu wissen glaubt - im Moment müssen wir zusammenhalten und von hier verschwinden - und das so schnell wie möglich.« Melissa machte tatsächlich eine Bewegung, um aufzustehen, doch Walter zog sie mit einem unsanften Ruck wieder zurück.

»Ich glaube dir nicht«, sagte er gerade heraus, aber mit einem so unsicheren Beiklang in der Stimme, daß er die gewünschte Wirkung wieder zunichte machte. »Was hast du mit den anderen gemacht?«

»Ich glaube nicht, daß sie unser Feind ist«, sagte Melissa. »Der kleine Mann hat gesagt, daß wir ihr trauen können.«

»Der kleine Mann?« Charity machte eine wegwerfende Geste, als Melissa antworten wollte und deutete zum Ausgang. Jetzt war nicht der Moment, über kleine Männer zu reden. »Los jetzt.«

Walter zögerte noch immer, und er machte auch keine Anstalten, Melissa loszulassen.

Charity sah ihn eine Sekunde lang herausfordernd an, dann zuckte sie mit den Schultern und drehte sich herum. »Ganz wie ihr wollt.«

Sie ging. Natürlich würde sie weder Melissa noch diesen Dummkopf hier zurücklassen, aber sie fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis einer von ihnen aufgab, und wer es sein würde.

Es war Walter. Die Angst, daß die Wanzen zurückkehren würden, war wohl doch größer als die Furcht vor Charity. Sie hatte den Ausgang fast erreicht, als sie hörte, wie Walter und das Mädchen aufstanden und ihr mit schnellen Schritten folgten.

Charity lächelte, blieb aber nicht stehen, um auf die beiden zu warten, sondern ging nur ein wenig langsamer, als sie in den Tunnel eindrang und sich nach links wandte.

Die Luft hier draußen war ein wenig besser als drinnen in der Halle. Qualm und Gestank waren auch in den Stollen gedrungen und tanzten als öligträge Schwaden im Licht des Handscheinwerfers.

Charity hörte, wenn auch leiser, noch immer dieses sonderbare Rascheln und Schaben, das irgendwo aus der Dunkelheit vor ihnen drang. Sie zog es allerdings vor, nicht allzu intensiv über den Ursprung dieses Geräusches nachzudenken.

Walter bewegte sich zwei Meter hinter ihr, doch Melissa schloß mit ein paar raschen Schritten zu ihr auf und schaute sie aus Augen an, in denen das Mißtrauen noch immer nicht erloschen war, aber mehr und mehr kindlicher Neugier wich. Plötzlich und unvermittelt fragte sie: »Warum darf ich dich nicht anfassen?«

»Das darfst du«, antwortete Charity lächelnd. »Nur nicht, so lange ich dieses Gerät eingeschaltet habe.«

Sie berührte den Schildgenerator gerade lange genug mit den Fingern, daß das rote Kontrollicht aufflackerte, und verzog die Lippen, als sie spürte, wie heiß er immer noch war.

»Du würdest dich schlimm verbrennen, wenn du es anfaßt.«

Melissa nickte mit gewichtiger Miene. »Es beschützt dich«, stellte sie fest; angesichts allem, was Charity bisher über das Mädchen und seine Familie wußte, ein erstaunlich scharfsinniger Schluß.

»Leider nicht so gut, wie ich es gerne hätte«, seufzte Charity. »Sehr viel länger hätte es nicht durchgehalten, fürchte ich. Wenn wir auf noch mehr von diesen Biestern stoßen, bekommen wir Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten?« Melissa blinzelte. »Du meinst, die Räuber könnten dir gefährlich werden?«

»So kann man es ausdrücken«, antwortete Charity.

Sie wußte noch nicht, ob sie Melissas schnelle Auffassungsgabe bewundern sollte, oder ob die Kleine ihr bereits auf die Nerven ging. Charity konnte nicht gut mit Kindern umgehen. Weder in ihrem Leben als NASA-Testpilotin noch in dem als Widerstandskämpferin gegen die Moroni war Platz für Kinder gewesen. Manchmal bedauerte sie das, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht etwas sehr Wichtiges versäumt hatte.

»Aber du bist unbesiegbar«, sagte Melissa nach einer Weile.

»Das wäre schön«, antwortete Charity lächelnd. »Leider ist es nicht ganz so, fürchte ich.«

»Du bist unbesiegbar«, beharrte Melissa in jenem Tonfall felsenfester Überzeugung, zu dem nur Kinder fähig sind. »Du gehörst zu den Himmelsbewohnern. Niemand kann ihnen etwas tun.«

Das waren sehr interessante Informationen, fand Charity. Sie würde sich bei nächster Gelegenheit eingehender mit Melissa über dieses Thema unterhalten müssen. Jetzt aber sagte sie: »So lange wir oben am Himmel bleiben, vielleicht. Hier unten sind wir fast so verwundbar wie ihr.«

Melissa runzelte die Stirn. Über diese Neuigkeit mußte sie nachdenken. Nach einer Weile sagte sie: »Aber der kleine Mann hat gesagt, daß ihr unbesiegbar seid. Ihr habt sogar die Götter bezwungen, die von den Sternen gekommen sind, um uns unsere Welt wegzunehmen.«

»Der kleine Mann weiß anscheinend eine ganze Menge«, sagte Charity lächelnd. »Aber ganz so war es nicht. Im Grunde haben sie sich selbst besiegt. Wir haben nur ein bißchen nachgeholfen, am Schluß.«

Sie hatten das Ende des Stollens erreicht. Vor ihnen lag jetzt wieder der U-Bahn-Tunnel, in dem sich das Licht des Handscheinwerfers in wattiger Schwärze verlor. Irgend etwas war anders geworden.

Charity konnte nicht sagen, was es war. Im Licht des Handscheinwerfers, das gespenstisch über den Boden wanderte, schien sich nichts verändert zu haben, und trotzdem war irgend etwas... nicht mehr so, wie es gewesen war.

Charity spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie glaubte den Geschmack des Adrenalins regelrecht auf der Zunge zu spüren. Ihr Unterbewußtsein registrierte eine Gefahr, die sie noch nicht richtig fassen konnte, die aber irgend etwas in ihrem Inneren rebellieren ließ.

Dann erkannte sie, was es war.

Das Geräusch.

Es war lauter geworden, und zugleich konnte sie viel mehr Einzelheiten identifizieren. Statt eines gleichförmigen Rascheins und Schabens hörte sie nun ein Konglomerat vollkommen unterschiedlicher und zugleich auch wieder ähnlicher Laute: Ein Rasseln und Trippeln, Klicken und Schleifen, Schieben und Schnappen, die sich zu einem wispernden, an- und abschwellenden Chor zu vereinen schienen, so als bewegte sich etwas kolossal Großes auf sie zu, das zugleich aber auch aus zahllosen, winzigen Einzelteilen bestand.

Charity drehte sich nach links. Der Scheinwerferstrahl folgte der Bewegung, erreichte den Fuß der Schutthalde und begann sie zu erklimmen, und als er ihr oberes Ende erreicht hatte, sah Charity, wie der gesamte Trümmerberg sich von oben nach unten weiß zu färben begann und gleichzeitig zum Leben zu erwachen schien ...

Melissa und Walter schrien gleichzeitig auf und rannten davon; Charity starrte die heranwogende Insektenmasse noch eine halbe Sekunde voller kaltem Entsetzen an, ehe auch sie auf dem Absatz herumwirbelte und den beiden hinterherstürzte.