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Walter und das Mädchen rannten so schnell, daß Charity alle Mühe hatte, den beiden zu folgen. Und sie bewegten sich mit so traumwandlerischer Sicherheit, daß Charity schon nach Sekunden klar wurde, daß die beiden hier unten praktisch zuhause waren.

Ihr Lichtstrahl hüpfte mit hektischen Bewegungen vor den beiden über den Boden, doch Charity bezweifelte, daß er nötig gewesen wäre. Sowohl Melissa, als auch Walter wichen Hindernissen oft genug aus, bevor sie im Licht auftauchten.

Wie lange, um alles in der Welt, hatten die beiden und ihre Familien hier unten gelebt?

Charity warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück. Die Wanzen hatten den Fuß des Schuttberges erreicht und begannen sich auf dem Tunnelboden auszubreiten. Sie bewegten sich nicht ganz so schnell wie Charity und die beiden anderen, aber auch nicht sehr viel langsamer. Und Charity war ziemlich sicher, daß diese Kreaturen keinerlei Erschöpfung kannten.

»Wohin?« schrie sie.

Melissa deutete heftig gestikulierend in die Dunkelheit vor sich. »Dort vorne! Der U-Bahnhof! Da geht es nach oben!«

Hintereinander stürmten sie vielleicht zwei-, dreihundert Meter weit über die rostigen Geleise, dann wichen Melissa und Walter jäh nach rechts. Vor ihnen erhob sich eine anderthalb Meter hohe Betonmauer, über der sich die geborstenen Fliesen eines verlassenen U-Bahnhofs erstreckten. Melissa und Walter flankten praktisch hinauf, ohne langsamer zu werden. Charity folgte ihnen nicht ganz so schnell, und sie verwandte noch einmal eine Sekunde darauf, einen Blick in den Tunnel zu werfen.

Ihr Vorsprung war auf gute hundert Meter angewachsen. Die Insektenarmee schien den Tunnel wie eine einzige, kompakte Masse auszufüllen, eine wirbelnde, allesverschlingende Freßmaschine. Es war ein grauenerregender Anblick. Aber wenn der Weg, den Melissa einschlug, wirklich nach oben führte, hatten sie eine reelle Chance. Skudders SWAT-Team mußte mittlerweile eingetroffen sein. Und selbst wenn nicht, konnte Charity schlimmstenfalls über ihren Armbandkommunikator den Jet herbeirufen.

Sie riß sich von dem furchtbaren Anblick los, fuhr herum und stürmte hinter den beiden her. Melissa hatte mittlerweile eine mit Trümmern übersäte Treppe erreicht, von deren oberem Ende ein schwacher Lichtschein herabfiel. Der Weg führte tatsächlich ins Freie.

Der Anblick spornte Charity noch einmal zu größerer Schnelligkeit an. Sie holte auf, stürmte hinter den beiden anderen die Treppe hinauf und stellte mit einem Gefühl leichter Irritation fest, daß sie auf halber Strecke stehengeblieben waren. Als sie die anderen erreichte, sah sie auch, warum es so war.

Die Treppe war verschwunden.

Wo die oberen fünfzehn oder zwanzig Stufen gewesen waren, erhob sich nun eine bizarre, spiegelglatte Masse aus geschmolzenem und wieder erstarrtem Stein und Glas. Vielleicht wäre es trotzdem möglich gewesen, diese Wand irgendwie zu ersteigen, doch aus der geschmolzenen Masse strahlte eine solche Hitze aus, daß es vollkommen unmöglich war, sich ihr auch nur auf drei Meter zu nähern.

»Ich... ich verstehe das nicht«, stammelte Melissa. »Das war vorher noch nicht da! Hier war eine Treppe!«

»Ich weiß, Kleines«, sagte Charity bitter.

Und ich weiß auch, wer für diesen Blitz-Umbau verantwortlich ist. Die Verbesserungen, die Hartmanns Techniker an den Bordwaffen des Jet vorgenommen hatten, waren ihr Geld wirklich wert. Ein einziger Schuß hatte genügt, um die Treppe auf mehr als fünfzehn Meter Länge zu schmelzen.

»Gibt es noch einen anderen Weg hier heraus?« fragte sie.

Walter nickte. »Die nächste Station. Es ist mehr als ein Kilometer bis dorthin, aber wir können es schaffen.«

Charity drehte sich um, schaute nach unten und sah, daß sie es nicht schaffen konnten. Unter ihnen tauchten die ersten Wanzen auf.

»O Gott!« stieß Walter hervor. »Sie haben uns.«

Charity Gedanken überschlugen sich. Sie saßen tatsächlich in der Falle. Die Wanzen bewegten sich langsamer als ihre Opfer, aber sie kamen die Treppe herauf. Es war nicht die ganze Armee, nicht einmal ein nennenswerter Teil. Aber das würde sich ändern, sobald die ersten Raubinsekten Witterung aufgenommen hatten.

Vielleicht hatten sie doch noch eine winzige Chance.

Charity zog ihre Waffe, schaltete von Punkt- auf Flächenfeuer um und richtete den Lauf in die Tiefe. Statt nadeldünner, sonnenheißer Blitze gab die Waffe nun einen breit gefächerten Strom nahezu unsichtbarer Laserenergie aus, die fast die gesamte Breite der Treppe abdeckte. Winzige Staubpartikel in der Luft und am Boden verwandelten sich für Sekundenbruchteile in Miniatursterne und verglühten. Die getroffenen Wanzen explodierten diesmal nicht, begannen aber plötzlich zu zucken, stürzten auf die Seite oder auf den Rücken und starben einen langsameren, doch ebenso sicheren Hitzetod.

Dünner Rauch begann von ihren Panzern aufzusteigen, während das empfindliche Fleisch darunter verkochte.

Charity schwenkte die Waffe in einer langsamen Bewegung von rechts nach links und wieder zurück. Der unsichtbare Strahl brannte eine Schneise aus Tod und Vernichtung in die Insektenarmee, aber die Kreaturen verfügten über nahezu unbegrenzten Nachschub. Für jedes Tier, das Charity erschoß, schienen drei neue aufzutauchen.

Sie schoß ungefähr eine Minute, dann nahm sie den Finger vom Feuerknopf und senkte den Laser.

»Was... was tust du?« stammelte Melissa. »Sie kommen näher! Schieß doch!«

»Gleich«, antwortete Charity gepreßt.

Die Energiezelle des Lasers hielt nicht ewig. Die Waffe hatte sich bereits spürbar erwärmt. Sie wartete, bis eine größere Anzahl Wanzen die Treppenstufen überschwemmte, schoß dann erneut und tötete mit einer einzigen Salve Hunderte der gefräßigen Monster. Die Treppe war mit schwelenden und sterbenden Wanzen übersät, doch der Strom weißer, krabbelnder Ungeheuer verebbte einfach nicht. Charity wartete wieder, hob die Waffe erneut und feuerte, wartete, schoß, wartete... Sie mußte bereits Tausende der Killerinsekten erledigt haben, doch wenn das, was sie vorhin unten im Tunnel gesehen zu haben glaubte, auch nur halbwegs der Wahrheit entsprach, lauerten dort unten Millionen Wanzen.

Charity tötete mit jedem Schuß Hunderte von ihnen, aber jedesmal, wenn sie die Waffe hin und her schwenkte, kam die vorderste Front der Insekten ein kleines Stückchen näher.

Dann stieß die Waffe einen letzten, summenden Strom unsichtbarer Energie aus und verstummte. Der Energieblock in ihrem Griff war leer.

»Was ist los?« fragte Walter. »Warum schießt du nicht?!«

»Ich kann nicht mehr«, antwortete Charity düster. Sie wedelte mit dem nutzlosen Laser.

»Leer.«

»Dann... dann sind wir wehrlos?« stammelte Walter. »Du kannst nichts mehr tun?«

Charitys Rechte senkte sich ganz automatisch auf den Schalter des Schildgenerators, aber dann zog sie die Hand wieder zurück, ohne den Knopf zu drücken. Der Generator war fast so ausgebrannt wie der Laser. Sie würde nicht zusehen, wie Melissa und Walter vor ihren Augen zerrissen wurden, nur um ein paar Sekunden länger zu leben.

Statt zu antworten, drehte sie den Laser herum und ergriff die Waffe am Lauf, um sie als Keule zu benutzen.

Walters Augen wurden groß, und auch das letzte bißchen Farbe wich aus seinem Gesicht. »Sie werden uns kriegen!« keuchte er. »Wir müssen weg hier!« Und damit fuhr er herum und rannte auf den zusammengeschmolzenen Teil der Treppe zu. Sein Schwung reichte tatsächlich aus, ihn ein paar Meter hinauf in die Höhe zu tragen, ehe er das Gleichgewicht verlor und auf Hände und Knie hinabfiel.

Charity hörte es Zischen, als seine nackte Haut den glühenden Stein berührte. Walter schrie gellend auf, schlitterte hilflos wieder in die Tiefe und preßte die verbrannten Handflächen an den Leib. Charity schenkte ihm nur einen flüchtigen Blick, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Wanzen zuwandte. In den wenigen Augenblicken, in denen sie abgelenkt gewesen war, hatten die Raubinsekten fast die Hälfte der Distanz zu ihnen zurückgelegt. Die Treppe war unter einer wuselnden weißen Flut verschwunden, die unaufhaltsam näher kam. Charity schätzte, daß ihnen noch zehn oder fünfzehn Sekunden blieben. Sie packte die Waffe fester, trat mit einem raschen Schritt vor und starrte die näherkommenden Wanzen mit grimmiger Entschlossenheit an. Sie hatte keine Chance, aber sie würde wenigstens noch ein paar von den Biestern mitnehmen...