2. Die politische Ökonomie erforscht, wie sich die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der materiellen Güter auf den verschiedensten Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft verändern. Sie befaßt sich mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in der Produktion, mit der gesellschaftlichen Struktur der Produktion. Die Erkenntnistheorie – um noch ein Beispiel zu nennen – untersucht die Geschichte des allmählichen Fortschritts der Menschen vom Nichtwissen zum Wissen, vom unvollständigen, unvollkommenen Wissen zu einem immer tieferen und vollkommeneren Wissen. Sie untersucht die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis.
Nun gibt es, wie jeder weiß, eine sehr große Zahl von Wissenschaften. Ja, mehr noch: Der Prozeß der Herausbildung neuer Wissenschaften hält an. Sie alle untersuchen die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung auf fast unübersehbar vielen Einzelgebieten. Wie unterschiedlich die konkreten Entwicklungsprozesse in diesen Einzelgebieten aber auch sein mögen, wie unterschiedlich die Gegenstände auch sein mögen, die sich entwickeln, immer geht[39] es um Prozesse, die wir mit einem Wort, mit einem Begriff kennzeichnen: Entwicklung.
Entwicklung – das ist bei allen Unterschieden im einzelnen immer Veränderung, Bewegung in aufsteigender[40] Linie: sie ist Übergang von niederen zu höheren, von einfacheren zu komplizierteren Dingen, Prozessen und Erscheinungen. Entwicklung ist der ewige und unendliche Prozeß in der Natur, in der Gesellschaft und im menschlichen Denken, in dem Neues aus Altem entsteht, neue Dinge und Erscheinungen aus alten hervorgehen, die Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt einander in unendlicher Folge ablösen.
Die materialistische Dialektik ist gleichsam[41] ein Schlüssel zu den tiefsten Geheimnissen der Natur, des Lebens, der Formen des menschlichen Zusammenlebens, unseres ganzen Daseins. Natürlich kann man auch leben, ohne die materialistische Dialektik zu kennen. Das «Alltagsleben» vieler Menschen vollzieht sich heute noch oft ohne Kenntnis und ohne bewußte Anwendung der materialistischen Dialektik und ihrer Gesetze. Aber man wird insgesamt besser mit den Problemen des Lebens fertig, wenn man die materialistische Dialektik kennt.
Geht es um Entwicklungsprozesse großen Ausmaßes, – etwa um den weltweiten Prozeß des Überganges der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus, – dann ist es notwendig, die Wissenschaft der Dialektik genau zu kennen und gut handhaben zu können. Für die Leitung solcher umfassender, komplexer Prozesse reichen die von den Einzelwissenschaften erforschten Entwicklungsgesetzmäßigkeiten jeweils[42] eines bestimmten Bereiches der Wirklichkeit nicht mehr aus. Die Kenntnis der allgemeinsten Entwicklungsgesetze ermöglicht es uns hingegen, die großen Zusammenhänge komplizierter Entwicklungsprozesse zu erfassen, vergangene und gegenwärtige Prozesse richtig zu verstehen und künftige Entwicklungsprozesse wenigstens in den Grundzügen richtig vorauszusehen.
3. Die Lehre von der materialistischen Dialektik ist deshalb gemeinsam mit dem philosophischen Materialismus eine wesentliche wissenschaftliche Grundlage für eine wissenschaftliche revolutionäre Politik. Aus ihr ergeben sich für das gesellschaftliche Leben revolutionäre Schlußfolgerungen, die den Interessen der Arbeiterklasse und aller fortschrittlichen Kräfte genau entsprechen und ebendeshalb allen reaktionären Kräften in der Welt wider den Strich laufen[43]. Deshalb bekämpfen die Ideologen des Monopolkapitals erbittert die Dialektik, bemühen sie sich, sie in den Augen der Werktätigen zu verunglimpfen und zu entstellen.
Neben dem Begriff der Dialektik wird auch häufig der Begriff der dialektischen Methode gebraucht. Die dialektische Methode ist wichtig für das Studium der Prozesse und Erscheinungen der Wirklichkeit und für unsere praktische Tätigkeit. Diese Methode ist kritisch und revolutionär, weil sie nicht zuläßt, daß man auf Erreichtem verharrt, weil sie auf das Neue orientiert, ein immer tieferes Eindringen in das Wesen der Dinge und Erscheinungen fordert, sich mit einseitigen, oberflächlichen Beurteilungen nicht zufriedengibt und damit auch eine dogmatische Erstarrung des Denkens verhindert. Die dialektische Methode verkörpert den Geist, dem Goethe im Doktor Faust Gestalt verlieh – den Geist des immerwährenden Suchens nach Neuem, den Geist der gesunden Unruhe, die niemals in Zufriedenheit erstickt[44], den Geist echten menschlichen Schöpfertums.
4. Man kann die Dialektik allgemein als eine bestimmte Denkweise bezeichnen, die sich im Verlaufe der ganzen Geschichte der Philosophie entwickelte und vervollkommnete. Das Wort Dialektik kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich «Kunst der Unterredung». Dialektische Gedanken finden wir bereits bei den großen materialistischen Philosophen der griechischen Antike. Am bekanntesten ist sicher Heraklit, der lehrte, daß alles in Bewegung ist, daß «alles fließt» und daß der Kampf die Quelle («der Vater») aller Dinge ist. Die Philosophen der Antike konnten sich natürlich noch nicht auf die Forschungsergebnisse einer entwickelten Wissenschaft stützen. Ihre dialektischen Gedanken waren daher im wesentlichen geniale Vermutungen, die sich auf empirische Naturbeobachtungen stützten und im Kern – wenn auch nicht in allen Einzelaussagen – richtig waren.
Besonders deutsche idealistische Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts haben einen großen Beitrag zur Entwicklung und Vervollkommnung der Dialektik geleistet. Vor allem ist hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu nennen, der Anfang des 19. Jahrhunderts Professor für Philosophie an der Berliner Universität war. Er versuchte zum ersten Mal in der Geschichte des menschlichen Denkens, den Entwicklungsprozeß mit allen seinen Gesetzmäßigkeiten zusammenhängend darzustellen.
Hegel war allerdings philosophischer Idealist. Er untersuchte den Entwicklungsprozeß nicht in der Wirklichkeit, in der Natur und in der Gesellschaft. Für die Wirklichkeit wollte er den Entwicklungsgedanken nicht gelten lassen. Entwicklung erkannte er nur für den Bereich des Ideellen an, für den Bereich des Geistigen, der «absoluten Idee», wie er das nannte. Deshalb konnte er auch die große Aufgabe, die er sich und die seine Zeit ihm gestellt hatte, nicht konsequent lösen.
Die Lösung dieser Aufgabe blieb Marx und Engels vorbehalten, die von Hegels Theorie der Dialektik ausgehend und deren idealistische Begrenztheit überwindend, die materialistische Dialektik schufen und sie zur umfassendsten und tiefsten Entwicklungslehre ausarbeiteten.
Der Dialektik steht, seit sich Menschen Gedanken über den Zusammenhang und die Entwicklung in der Welt machen, eine andere Denkweise entgegen. Diese andere Denkweise leugnet den durchgängigen[45] Zusammenhang und die Entwicklung in der Welt oder anerkennt ihn nur teilweise und dazu noch in entstellter Form. Wir bezeichnen diese Denkweise, die in unversöhnlichem Gegensatz zur Dialektik steht, als Metaphysik. Metaphysische Gedanken waren vor allem in jener Zeit vorherrschend, als – etwa im 17. und 18. Jahrhundert – die Wissenschaften hauptsächlich damit beschäftigt waren, Einzeltatsachen zu sammeln und zu analysieren, als sie gerade deshalb Zusammenhänge und Entwicklungsvorgänge noch nicht genügend zu erkennen vermochten. Damals war die metaphysische Denkweise durchaus[46] noch berechtigt. Später aber, als die Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse immer deutlicher erkannt wurden, gestaltete sich das anders. Die metaphysische Denkweise wurde zu einem Hemmnis für den wissenschaftlichen Fortschritt, für die wissenschaftliche Erkenntnis und für die Veränderung der Welt. Die metaphysische Denkweise wurde nicht nur selbst reaktionär, sondern auch zu einem Instrument der Reaktion. Sie ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. Aber die Dialektik als eine aus dem Leben geschöpfte Wissenschaft ist unbesiegbar wie das Leben selbst.