§ 6.
Psychologie und ihr Aufgabenbereich
Text А
(Erlebach – Uhlefeld – Zehner, S. 13 – 14, 21 – 22, 16 – 18, 251)
1. Das Wissenschaftsgebiet der Psychologie wurde – ohne so genannt zu werden – bereits durch Aristoteles (um 350 v.u.Z.) in seiner noch heute lesenswerten Schrift «Über die Seele» als selbständiger Bereich abgegrenzt.
Im Laufe der Jahrhunderte bildete das Problem des Seelischen einen wichtigen Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen fortschrittlichen und reaktionären Philosophen.
Die gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa im 18. und 19. Jahrhundert brachten eine stürmische Entwicklung aller Wissenschaften mit sich. Der schnelle Aufschwung der Naturwissenschaften, insbesondere der Physiologie und die materialistische Philosophie bildeten die Voraussetzung für die Entstehung der Psychologie als einer selbständigen Wissenschaft.
Das Wort Psychologie kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie Seelenlehre: psyché = Atem, Seele; logos = das Wort, die Lehre.
Es ist heute die Bezeichnung für ein umfangreiches Wissenschaftsgebiet.
Die Worterklärung sagt noch nichts über den Gegenstand der Psychologie aus, und man fragt deshalb sofort: Was ist das Seelische bzw. das Psychische?
So ungefähr meint[110] das jeder zu wissen, und in der Alltagssprache[111] hört man manchmal, daß einem etwas auf der Seele liege, daß man Seelenqualen erleide, oder man kennzeichnet einen Menschen als eine schwarze Seele. Aber erst dann, wenn man ganz genau sagen soll, was unter der Seele zu verstehen ist, merkt man, wie schwer es ist, sich klar auszudrücken.
Die Wörter Physiologie und Psychologie sind mitunter recht strapaziert[112] und mißbraucht worden. Auch heute bestehen bei manchen Menschen noch falsche Ansichten darüber, was Psychologie eigentlich ist und womit sie sich beschäftigt. Wer etwa einmal das Verhalten eines anderen richtig vorausgesagt hat, mag sich bereits als Psychologe wähnen[113]. Andere erwarten vom Psychologen, daß er Gedanken lesen oder die Zukunft voraussagen könne. Mit solchen Dingen hat die Psychologie nichts zu tun.
Die Psychologie ist eine Wissenschaft und erforscht das Psychische an Hand der Gesetzmäßigkeiten seiner Entwicklung. Im System der Wissenschaften läßt sie sich weder den Natur noch den Gesellschaftswissenschaften eindeutig zuordnen, sondern, da der Mensch das Produkt der Entwicklung der Natur und das Subjekt der Geschichte ist, muß die Psychologie vor allem als eine «Wissenschaft vom Menschen» bezeichnet werden.
Unter dem Psychischen verstehen wir ganz bestimmte, mit der Tätigkeit des Nervensystems – besonders des Gehirns – in uns ablaufende Erscheinungen.
2. Ständig strömt eine Fülle von Reizen auf unsere Sinnesorgane ein und wird von diesen aufgenommen. Ihrem Ursprung nach können die Reize aus zweierlei[114] Quellen stammen: Erstens aus der Umwelt des Menschen. Dazu gehört alles, was uns über die Sinne erfahrbar werden kann, zum Beispiel Licht, Farben, Töne, Geräusche, Geschmack, Geruch, Temperatur, Druck, aber auch mündliche und schriftliche Sprache. Zweitens gibt es Reize, die ihren Ursprung im Organismus selbst haben. Durch sie erfahren wir etwas über den Zustand der inneren Organe, zum Beispiel bei Erkrankung. Alle diese Reize signalisieren uns Dinge oder Vorgänge, die unabhängig von unserem Bewußtsein existieren. Die Reizeinwirkung löst im Sinnesorgan eine Erregung aus, die im Sinnesnerv zum Zentralnervensystem weitergeleitet wird. Hier werden ganz bestimmte Gruppen von Nervenzellen bis zum Großhirn – wenn auch nicht in jedem Falle – in einen Erregungszustand versetzt und die Tätigkeit der Nervenzellen der Großhirnrinde – die höhere Nerventätigkeit – kann uns bewußt werden, aber nicht als ein bestimmtes System von erregten Nervenzellen und -verbindungen, sondern etwa als Wahrnehmung: Wir sehen ein Haus, wir hören eine Melodie, wir haben Schmerzen am Bein, d.h. die Wahrnehmungen spiegeln die objektive Realität wider.
Die höhere Nerventätigkeit ist sehr kompliziert. So wissen wir wohl, daß die Reizeinwirkungen bestimmte Spuren hinterlassen und daß der Mensch auf diese Weise Kenntnisse und Erfahrungen erwirbt, die dann sein Handeln mitbestimmen. Jedoch kann man über die physiologisch-chemische Beschaffenheit dieser Spuren zur Zeit erst wenig aussagen.
3. Um die Mannigfaltigkeit des psychischen Geschehens zu erforschen, haben sich im Laufe der Zeit mehrere Zweige der Psychologie herausgebildet, die von jeweils[115] verschiedenen Gesichtspunkten und Fragestellungen ausgehen.
Die allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit den Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten der psychischen Prozessen und Eigenschaften beim gesunden erwachsenen Menschen. Sie wird immer stärker als Psychologie der Persönlichkeit betrieben[116], bedingt durch die Erkenntnis, daß man psychische Vorgänge eben nicht isoliert neben- oder hintereinanderstellen kann, sondern daß stets die gesamte Persönlichkeit in ihrem Handeln den Einzelvorgang mitbestimmt.
Das Psychische ist nicht vom Moment der Geburt an so vorhanden, wie es uns beim Erwachsenen entgegentritt, sondern es entwickelt sich im Verlauf der Kindheit und des Jugendalters. Wir finden in der Entwicklung des Psychischen solche Erscheinungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bei allen Kindern einer ganz bestimmten Altersstufe auftreten, und nennen diese Erscheinungen altersgemäße Besonderheiten. Hierzu gehören zum Beispiel das relativ starke Überwiegen der Phantasie über das Denken beim Vorschulkind und die relative Labilität der Gefühle in einer ganz bestimmten Phase der Pubertät. Die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Psychischen in der Ontogenese erforscht die Psychologie des Kindes und Jugendlichen. Sie ist ein Teil der Entwicklungspsychologie, zu der weiterhin die Tierpsychologie gehört, welche u.a. wichtige Hinweise für den Verlauf der Entwicklung des Psychischen in der Phylogenese gibt.
Weiterhin können wir auch die Völkerpsychologie, die sich mit dem Vergleich der psychischen Entwicklung bei den auf verschiedenen Zivilisationsstufen befindlichen Völkerschaften befaßt, zur Entwicklungspsychologie rechnen. Diese Forschungen werden immer schwieriger, da die Entwicklung heutzutage bereits einen solchen Stand erreicht hat, daß es kaum noch weit zurückgebliebene Volkstämme gibt. Dagegen werden in Zukunft immer mehr die nationalen Besonderheiten untersucht werden müssen.
Eine sehr wichtige Disziplin für den Lehrer ist die pädagogische Psychologie. Sie ist eng mit der Psychologie des Kindes und Jugendlichen verbunden und knüpft an die von dieser erkannten Alterbesonderheiten der Kinder an.
Die Arbeitspsychologie befaßt sich mit den psychologischen Voraussetzungen des Arbeitsprozesses. Außerdem werden Probleme der Rationalisierung der Produktion, der Anpassung der Maschinen an die menschlichen Besonderheiten, Möglichkeiten der Unfallverhütung, die Anforderungen der Berufe an den Menschen, Fragen der Eignung für bestimmte Berufe u.a.m. untersucht.
4. Ein weiterer Fachbereich der Psychologie befaßt sich mit Störungen des Psychischen, mit krankhaften Erscheinungen: die Psychopathologie (manchmal auch Pathopsychologie genannt). Sie steht in engem Zusammenhang mit der medizinischen Psychologie, die besonders in letzter Zeit große Bedeutung erlangt[117] hat, seitdem man erkannte, daß Störungen im Bereich des Seelenlebens nicht selten organische Krankheiten auszulösen vermögen und umgekehrt.
110
So ungefähr meint das jeder zu wissen – каждый считает, что он приблизительно знает это.