3. Eine auf die soziale und politische Geschichte bezogene Formulierung Lenins ist auch für das Verständnis des Zeitstils förderlich[130]: «Nur die Kenntnis der Grundzüge einer bestimmten Epoche kann als Basis für die Beurteilung der mehr ins einzelne gehenden Besonderheiten dieses oder jenes Landes dienen»[131].
Auch die Entwicklung eines Stiles läßt sich in der Regel als ein dialektischer Prozeß verstehen. Es hat manche Diskussionen z.B. über die Entstehung der gotischen Architektur und Architekturplastik gegeben. Man hat Vorstufen[132] für einzelne Merkmale der Gotik in verschiedenen Kunstlandschaften Frankreichs festgestellt. Hier sind einzelne, quantitative Fortschritte gemacht worden – aber man darf sie noch nicht Gotik nennen. Sie wachsen jedoch in einem kurzen Zeitraum und in einem begrenzten Territorium, und zwar auf Grund ökonomischer und gesellschaftlicher Fortschritte, die sich gerade dort vollzogen, zu etwas Anderem und Neuem zusammen; es vollzieht sich ein dialektischer Umschlag der isolierten quantitativen Bereicherungen in eine neue Qualität, ein echter Sprung der Entwicklung. Eine solche Betrachtung bewahrt den Forscher vor Fehlinterpretationen der Vorstufen, vor irrtümlichen Verabsolutierungen der einzelnen Elemente, vor falschen Periodisierungen der Kunstgeschichte.
4. Damit sind die dialektischen Züge in der Kunstgeschichte – ganz abgesehen von denen des künstlerischen Schaffensprozesses – nicht ausgeschöpft. Aber hier sei nur noch eine Frage angeschnitten, die des Fortschrittes in der Kunstgeschichte. Seit Alois Riegl ist der Gedanke des Fortschritts diskreditiert, obwohl Riegl die spätantike Kunst einen Fortschritt gegenüber der Klassik nennt und nur davon spricht, daß es keinen Verfall und Rückschritt in der Kunst gäbe. Aber aus seiner wissenschaftlichen Einstellung, jede Kunst nur mit ihrem eigenen Maße zu messen, die so fruchtbar für die Erforschung vieler bislang[133] verachteter Perioden und Provinzen der Weltkunst wurde, ist notwendigerweise geworden, daß alle Kunst gleichwertig und mithin[134] kein Fortschritt festzustellen sei. In der Tat erscheint uns auch die Frage, ob Goya ein besserer Maler als Raffael sei, weil er später lebte, unsinnig – obwohl es Vulgärmaterialisten und marxistisch sein wollende Sektierer gibt, die ein Werk des sozialistischen Realismus für schlechthin besser halten als alles Ältere. Aber diesem Problem kann man mit dem Begriff «besser oder schlechter» nicht beikommen. Richtig ist wohl, daß die Geschichte der Menschheit und ihrer Kultur eine insgesamt progressive, aufsteigende Entwicklung durchmacht, die auf der Grundlage wachsender Beherrschung der Natur durch Entfaltung der Produktivkräfte einem wachsenden Prozentsatz von Menschen immer größere Freiheit für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit verschafft. In diesem Prozeß wächst auch die Vielseitigkeit und Tiefe der Kenntnisse von Mensch und Welt, die in der Kunst gewonnen und ausgedrückt werden können. Immer mehr Bereiche der Natur und der Seele werden immer wahrheitsgetreuer darstellbar. Das ist ein objektiver Forstschritt. Er verläuft nicht geradlinig und nicht ohne Rückschläge, er wird sogar immer mit bestimmten Verlusten erkauft[135]. Überdies gibt es Perioden, in denen Produktionserfahrungen wie Kunsterfahrungen und Fähigkeiten tatsächlich verlorengehen, oder die Produktionsverhältnisse hemmend werden und eine Gesellschaft degeneriert. Dann wird in der Regel auch ihre Kunst oberflächlich, verlogen oder ärmer. Sie wird dekandent und verliert an menschlichem Gehalt und Wert. Sie vermag der Nachwelt weniger zu bieten und verfällt. Ein dabei gelegentlich anzutreffender Zuwachs an rein formalen Reizen kann nur bedingt über diese Situation hinwegtrösten[136]. Selbst wo wir es uns theoretisch nicht eingestehen wollen, urteilen wir praktisch so. Auch wer für die geistvollen Erfindungen des italienischen Manierismus empfänglich[137] ist, vermag nicht Bronzino über Leonardo oder auch nur auf eine Stufe mit ihm zu stellen.
Übungen
I. Sprechen Sie die folgenden Wörter richtig aus:
die Notiz; die Ursache; die Notwendigkeit; der Zufall; das Phänomen; ermöglichen; gotisch; die Fehlinterpretation; irrtümlich; das Maß; verachten; die Periode; der Zuwachs.
II. Lesen Sie und übersetzen Sie den Text A ins Russische.
III. Geben Sie entsprechende russische Äquivalente für folgende Ausdrücke:
1. die Kunstgeschichte; etwas besagt, daß …; der künstlerische Schaffensprozeß; Ursache und Wirkung; das Allgemeine und Besondere; Notwendigkeit und Zufall; Möglichkeit und Wirklichkeit;
2. wechselseitige Bedingtheit der Phänomene; die Urteile begreifen; die Berücksichtigung der historischen Umstände; das Kunstschaffen ermöglichen; der Stil einer Epoche; die Kunst des Barocks; die flämische Kunst;
3. auf etwas beziehen; die Plastik des Mittelalters; vor Fehlintepretationen bewahren; die Merkmale der Gotik; die quantitative Bereicherung; eine irrtümliche Verabsolutierung;
4. abgesehen von diesen Elementen; alle Möglichkeiten ausschöpfen; eine Frage anschneiden; den Gedanken des Fortschritts diskreditieren; Verfall und Rückschritt in der Kunst; mit seinem eigenen Maße messen; in der Tat; marxistisch sein wollende Sektierer; der sozialistische Realismus; die Gefahr verachten; jemandem nicht beikommen können; die aufsteigende Entwicklung; Freiheit verschaffen; etwas wahrheitsgetreu darstellen; geradlinig verlaufen; einen großen Verlust erleiden; die Fähigkeit geht verloren; die Entwicklung hemmen; degenerieren und verfallen; in der Regel; verlogene und dekadente Kunst; an Gehalt verlieren; jemandem Geld bieten; jemanden gelegentlich fragen; ein anzutreffender Zuwachs; ehrlich seine Fehler eingestehen; vernünftig über etwas urteilen; geistvolle Erfindungen.
IV. Bilden Sie von den folgenden Verben Substantiva (z.B. wirken – Wirkung):
urteilen; berücksichtigen; begreifen; beziehen; bereichern; verfallen; messen; tun; verlieren; hemmen.
V. Bilden Sie Adjektiva von den folgenden Substantiva (z.B. Plastik – plastisch):
Künstler; Ästhetik; Vernunft; Gotik; Irrtum.
VI. Bilden Sie schriftlich 10 Fragesätze, so daß die unten angegebenen Sätze Antworten wären. Übersetzen Sie die Antwort.
1. Die Dialektik besagt, daß der künstlerische Schaffensprozeß sich in dialektischer Weise vollzieht.
2. Die dialektischen Gesetze legten Engels im «Anti-Dühring» und Lenin in seinen Notizen «Zur Frage der Dialektik» dar.
3. Die Beziehungen von Ursache und Wirkung, Allgemeinem und Besonderem, Notwendigkeit und Zufall, Möglichkeit und Wirklichkeit sind dialektische Gesetze.
4. Die Dialektik verlangt vor allem die Berücksichtigung der Entwicklung und der historischen Umstände.
5. Die Dialektik ermöglicht, die Beziehungen zwischen Objektivem und Subjektivem im ästhetischen Verhalten zur Realität, einschließlich des Kunstschaffens, zu klären.
6. Die Maler Rubens, van Dyck und Jordaens waren Vertreter des Barocks und zwar der flämischen Kunst.
7. Es hat mehrere Diskussionen über die Entstehung der gotischen Architektur und Plastik gegeben.
8. Die dialektisch-historische Betrachtung der Kunst bewahrt den Forscher vor Fehlinterpretationen und irrtümlichen Verabsolutierungen.
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über diese Situation hinwegtrösten – явиться некоторым утешением в связи с этой ситуацией.