Was ist Abstraktion und welche Rolle spielt sie im begrifflichen Denken?
Als Antwort kann man etwa formulieren: Abstraktion bezeichnet die Möglichkeit, einen Gegenstand oder eine Gruppe von Gegenständen unter einem Gesichtspunkt unter Absehen von allen anderen Gegenstandseigenschaften zu betrachten. Das Herausheben eines Merkmals, das in diesem Zusammenhang als besonders wichtig betrachtet wird gegenüber allen anderen Eigenschaften macht das Wesen der Abstraktion aus. Alle Begriffsbildung beruht, wie man leicht einsieht, auf diesem Prozeß der Abstraktion. Denn Begriffsbildung setzt voraus, daß man Gleichartiges erkennen kann. Da völlige Gleichheit aber in den Erscheinungen praktisch nie vorkommt, entsteht die Gleichartigkeit nur durch den Vorgang der Abstraktion, durch das Herausheben eines Merkmals unter Weglassung aller anderen. Um etwa den Begriff «Baum» bilden zu können, muß man einsehen, daß es bei Birke und Tanne gewisse gemeinsame Züge gibt, die man abstrahierend herausheben und damit ergreifen kann.
Das Aufspüren gemeinsamer Züge kann unter Umständen ein Erkenntnisakt von größter Bedeutung sein. Die Bildung des Zahlbegriffs ist bereits ein entscheidender Schritt aus dem Bereich der uns unmittelbar sinnlich gegebenen Welt heraus und in ein Gewebe rational erfaßbarer gedanklicher Strukturen hinein. Vom Standpunkt der heutigen Mathematik aus ist allerdings die einzelne Zahl weniger wichtig als die Grundoperation des Zählens. Es ist diese Operation, die die nicht abbrechende Reihe der natürlichen Zahlen entstehen läßt und mit ihr schon implizite alle die Sachverhalte hervorbringt, die etwa in der Zahlentheorie studiert werden. Mit dem Zählen ist offenbar ein entscheidender Schritt in die Abstraktion getan, mit ihm kann der Weg in die Mathematik und in die mathematische Naturwissenschaft betreten werden.
An dieser Stelle kann nun schon ein Phänomen studiert werden, das uns später auf den verschiedenen Stufen der Abstraktion in der Mathematik oder der neuzeitlichen Naturwissenschaft immer wieder begegnen wird und das für die Entwicklung des abstrakten Denkens in der Naturwissenschaft beinahe als eine Art «Urphänomen» bezeichnet werden könnte – obwohl GOETHE seinen Ausdruck «Urphänomen» an dieser Stelle sicher nicht gebraucht hätte. Man kann es etwa die «Entfaltung abstrakter Strukturen» nennen. Die Begriffe, die zunächst durch Abstraktion aus einzelnen Sachverhalten oder Erfahrungskomplexen gebildet werden, gewinnen ein eigenes Leben. Sie erweisen sich als viel reichhaltiger und fruchtbarer, als man ihnen zunächst ansehen kann. Sie zeigen in der späteren Entwicklung eine selbständig ordnende Kraft, indem sie zur Bildung neuer Formen und Begriffe Anlaß geben, Erkenntnisse über deren Zusammenhang vermitteln und sich auch bei dem Versuch, die Welt der Erscheinungen zu verstehen, in irgendeinem Sinne bewähren.
Aus dem Begriff des Zählens und den mit ihm verknüpften einfachen Rechenoperationen z.B. ist später teils in der Antike, teils in der Neuzeit eine komplizierte Arithmetik und Zahlentheorie entwickelt worden, die eigentlich nur das aufdeckt, was mit dem Zahlbegriff von Anfang an gesetzt worden war. Ferner gab die Zahl und die aus ihr entwickelte Lehre von den Zahlenverhältnissen die Möglichkeit, Strecken messend zu vergleichen. Von hier aus konnte eine wissenschaftliche Geometrie entwickelt werden, die begrifflich bereits über die Zahlenlehre hinausgeht. Bei dem Versuch, in dieser Weise die Geometrie auf die Zahlenlehre zu begründen, sind schon die Pythagoreer auf die Schwierigkeit mit den irrationalen Streckenverhältnissen gestoßen und so zur Erweiterung ihres Zahlkörpers gedrängt worden; sie mußten gewissermaßen den Begriff der Irrationalzahl erfinden. Von hier weiterschreitend gelangten die Griechen zum Begriff des Kontinuums und zu den bekannten, später vom Philosophen ZENON studierten Paradoxien. Auf die Schwierigkeiten in dieser Entwicklung der Mathematik soll aber hier nicht eingegangen, es sollte nur auf den Reichtum an Formen hingewiesen werden, der im Zahlbegriff implizite steckt und aus ihm entfaltet werden konnte. An diesem Grundphänomen hat sich die Problematik entzündet:
Was ist denn eigentlich das Objekt der Mathematik?
Daß es sich in der Mathematik um echte Erkenntnis handelt, kann ja wohl kaum bezweifelt werden. Aber Erkenntnis wovon? Beschreiben wir in der Mathematik etwas objektiv Wirkliches, also etwas, das auch unabhängig vom Menschen in irgendeinem Sinne existiert, oder ist die Mathematik nur eine Fähigkeit des menschlichen Denkens? Sind die Gesetze, die wir in ihr ableiten, nur Aussagen über die Struktur dieses menschlichen Denkens? Ich will diese Problematik hier nicht wirklich aufrollen, sondern nur eine Bemerkung machen, die den objektiven Charakter der Mathematik unterstreicht.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es auf anderen Planeten, sagen wir auf dem Mars, jedenfalls aber in anderen Sternsystemen, auch so etwas wie Leben gibt, und es muß durchaus mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß es auf irgendwelchen anderen Weltkörpern auch Lebewesen gibt, in denen die Fähigkeit, abstrakt zu denken, so weit ausgebildet ist, daß sie den Zahlbegriff geprägt haben. Wenn dies so ist, und wenn diese Lebewesen an ihren Zahlbegriff eine wissenschaftliche Mathematik anschließen, so werden sie zu genau denselben zahlentheoretischen Sätzen kommen wie wir Menschen. Arithmetik und Zahlentheorie können grundsätzlich bei ihnen nicht anders aussehen als bei uns, sie müssen in ihren Resultaten mit den unsrigen übereinstimmen. Wenn die Mathematik als Aussage über das menschliche Denken gelten soll, dann also jedenfalls: über das Denken an sich, nicht nur das menschliche Denken. Sofern es überhaupt Denken gibt, muß die Mathematik in ihm die gleiche sein. Man kann diese Feststellung mit einer anderen, naturwissenschaftlichen Feststellung vergleichen. Auf den anderen Planeten oder weiter entfernt liegenden Weltkörpern gelten sicher genau die gleichen Naturgesetze wie bei uns. Das ist nicht nur eine theoretische Vermutung, vielmehr können wir in unseren Fernrohren sehen, daß es dort die gleichen chemischen Elemente gibt wie bei uns, daß sie die gleichen chemischen Verbindungen eingehen und Licht von der gleichen spektralen Zusammensetzung aussenden.