Kehren wir für einen Augenblick wieder zur Mathematik zurück, bevor wir uns die Entwicklung der Naturwissenschaften ansehen. Die Mathematik hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue und umfassendere Begriffe gebildet und ist so zu immer höheren Stufen der Abstraktion aufgestiegen. Der Zahlbereich wurde erweitert um die irrationalen Zahlen und um die komplexen Zahlen. Der Begriff der Funktion eröffnete den Zugang zum Reich der höheren Analysis, Differential- und Intergralrechnung. Der Begriff der Gruppe erwies sich als gleich fruchtbar in der Algebra, der Geometrie, der Funktionentheorie und legt den Gedanken nahe, daß es möglich sein sollte, auf einer höheren Stufe der Abstraktion die ganze Mathematik mit ihren vielen verschiedenen Disziplinen unter einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen und zu verstehen. Die Mengenlehre wurde als ein derartiger abstrakter Unterbau der ganzen Mathematik entwickelt. Die Schwierigkeiten der Mengenlehre erzwangen schließlich den Schritt von der Mathematik in die mathematische Logik, der in den zwanziger Jahren besonders von HILBERT und seinen Mitarbeitern in Göttingen vollzogen wurde. Jedesmal mußte der Schritt von der einen Stufe zur nächsten getan werden, weil die Probleme in dem engen Bereich, in den sie zunächst gestellt waren, nicht wirklich gelöst und jedenfalls nicht wirklich verstanden werden konnten.
Erst die Verknüpfung mit anderen Problemen in weiteren Bereichen eröffnete die Möglichkeit zu einer neuen Art des Verständnisses und veranlagte daher das Bilden von weiteren umfassenderen Begriffen. Als man z.B. eingesehen hatte, daß sich das Parallelenaxiom der Euklidischen Geometrie nicht beweisen läßt, wurde die Nicht-Euklidische Geometrie entwickelt. Aber ein wirkliches Verständnis wurde erst erreicht, als man die sehr viel allgemeinere Frage stellte: Läßt sich innerhalb eines Axiomensystems beweisen, daß dieses System keine Widersprüche enthält? Erst als man so fragte, hatte man den Kern des Problems getroffen. Am Ende dieser Entwicklung steht in unserer Zeit eine Mathematik, über deren Grundlagen nur in außerordentlich abstrakten Begriffen gesprochen werden kann, bei denen die Beziehung zu irgendwelchen Dingen der Erfahrung völlig verloren zu sein scheint. Von dem Mathematiker und Philosophen BERTRAND RUSSELL soll der Satz stammen: «Die Mathematik handelt von Dingen, von denen sie nicht weiß, was sie sind, und sie besteht aus Sätzen, von denen man nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind». (Zur Erläuterung des zweiten Teils dieser Äußerung: Man weiß nämlich nur, daß sie formal richtig sind, aber nicht, ob es Objekte in der Wirklichkeit gibt, auf die sie bezogen werden könnten.) Aber die Geschichte der Mathematik sollte hier ja auch nur als Beispiel dienen, an dem man die Zwangsläufigkeit der Entwicklung zur Abstraktion und zur Vereinheitlichung erkennen kann. Es soll nun gefragt werden, ob sich in der Naturwissenschaft etwas Ähnliches vollzogen hat.
Dabei möchte ich mit der Wissenschaft beginnen, die nach ihrem Gegenstand dem Leben am nächsten und insofern vielleicht am wenigsten abstrakt sein sollte, die Biologie.
Die Entwicklung der Biologie
In ihrer alten Einteilung in Zoologie und Botanik war sie in weitem Umfang eine Beschreibung der vielen Formen, in der das Leben uns auf der Erde entgegentritt. Die Wissenschaft verglich diese Formen mit dem Ziel, Ordnung in die zunächst fast unübersehbare Fülle von Lebenserscheinungen zu bringen und nach Regelmäßigkeiten im Bereich des Lebendigen zu suchen. Dabei entstand von selbst die Frage, nach welchen Gesichtspunkten verschiedene Lebewesen verglichen werden können, was also etwa die gemeinsamen Merkmale seien, die als Grundlage des Vergleichs dienen könnten. Schon z.B. GOETHEs Untersuchungen über die Metamorphose der Pflanzen sind eben auf ein solches Ziel gerichtet. An diese Stelle mußte also der erste Schritt zur Abstraktion erfolgen. Man fragte nicht mehr primär nach den einzelnen Lebewesen, sondern nach den biologischen Funktionen, wie Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Atmung, Kreislauf usw., die das Leben charakterisieren. Diese Funktionen lieferten die Gesichtspunkte, nach denen man auch sehr verschiedenartige Lebewesen gut vergleichen konnte. Sie erwiesen sich ähnlich wie die abstrakten Begriffe der Mathematik als unerwartet fruchtbar. Sie entwickelten gewissermaßen eine eigene Kraft zum Ordnen sehr weiter Bereiche der Biologie. So entstand aus dem Studium der Vorgänge bei der Vererbung die Darwinsche Lehre von der Evolution, die zum ersten Male die Fülle verschiedener Formen des organischen Lebens auf der Erde unter einem großen einheitlichen Gesichtspunkt zu deuten versprach. Die Untersuchungen über Atmung und Staffwechsel andererseits führten von selbst zu der Frage nach den chemischen Vorgängen im lebendigen Organismus; sie gaben den Anlaß, diese Vorgänge mit chemischen Prozessen in der Retorte zu vergleichen. Damit wurde die Brücke von der Biologie zur Chemie geschlagen und zugleich die Frage aufgeworfen, ob die chemischen Vorgänge im Organismus und in der unbelebten Materie nach den gleichen Naturgesetzen ablaufen. So verschob sich die Frage nach den biologischen Funktionen zu der anderen Frage, wie diese biologischen Funktionen materiell in der Natur verwirklicht werden. Solange das Augenmerk auf die biologischen Funktionen selbst gerichtet war, paßte die Betrachtungsweise noch ganz in die geistige Welt etwa des mit GOETHE befreundeten Arztes und Philosophen CARUS, der auf den engen Zusammenhang des funktionalen Geschehens im Organismus mit unbewußten seelischen Vorgängen hingewiesen hatte. Mit der Frage nach der materiellen Verwirklichung der Funktionen aber wurde der Rahmen der Biologie im eigentlichen Sinn gesprengt. Denn nun wurde offenbar, daß man die biologischen Vorgänge nur dann wirklich verstehen kann, wenn man auch die ihnen entsprechenden Vorgänge chemischer und physikalischer Art wissenschaftlich analysiert und gedeutet hat. In dieser nächsten Stufe der Abstraktion wird also von allen biologischen Sinnzusammenhängen zunächst abgesehen und nur gefragt, welche physikalisch-chemischen Vorgänge als Korrelate zu biologischen Prozessen sich in einem Organismus tatsächlich abspielen. In der Verfolgung dieses Weges ist man in unserer Zeit zur Erkenntnis sehr allgemeiner Zusammenhänge gekommen, die ganz einheitlich alle Lebensvorgänge auf der Erde zu bestimmen scheinen und die man am einfachsten in der Sprache der Atomphysik ausdrücken kann. Als spezielles Beispiel seien die Erbfaktoren genannt, deren Weitergabe von Organismus zu Organismus durch die bekannten Mendelschen Gesetze geregelt wird. Diese Erbfaktoren sind offenbar materiell durch die Anordnung einer größeren Anzahl von vier charakteristischen Molekülbruchstücken auf den zwei Fäden eines Fadenmoleküls gegeben, das Desoxyribonukleinsäure genannt wird und beim Aufbau der Zellkerne eine entscheidende Rolle spielt. Die Erweiterung der Biologie in Chemie und Atomphysik hinein gestattet also die einheitliche Deutung gewisser biologischer Grundphänomene für die ganze Welt des Lebendigen auf der Erde. Ob ein etwa auf anderen Planeten bestehendes Leben dieselben atomphysikalischen und chemischen Strukturen benutzt, läßt sich im Augenblick noch nicht entscheiden, aber möglicherweise wird man die Antwort auf diese Frage auch in nicht allzu ferner Zeit wissen.
In der Chemie
In der Chemie hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen wie in der Biologie, und ich möchte aus der Geschichte der Chemie nur eine Episode herausgreifen, die für das Phänomen «Abstraktion und Vereinheitlichung» charakteristisch ist, nämlich die Entwicklung des Valenzbegriffs. Als man anfing, die Verbindungen der Stoffe quantitativ zu analysieren, also zu fragen, wieviel von den verschiedenen chemischen Elementen in der betreffenden Verbindung vorhanden sei, entdeckte man ganzzahlige Verhältnisse. Nun hatte man schon vorher die Atomvorstellung als ein zweckmäßiges Bild verwendet, unter dem die Verbindung der Elemente gedacht werden kann. Man gestaltete das Bild aus und nahm an, daß sich verschiedene Atome zunächst zu Atomgruppen zusammenordnen, die dann als Moleküle die kleinsten Einheiten der Verbindung abgeben. Die ganzzahligen Verhältnisse der Grundstoffe in verschiedenen Verbindungen konnten durch die Anzahl der Atome im Molekül gedeutet werden.