Da die Begriffe «Materie» und «Bewußtsein» die umfassendsten philosophischen Kategorien sind, die auf andere Begriffe nicht mehr zurückführbar sind, können sie nur durch Gegenüberstellung und Klärung ihres wechselseitigen Verhältnisses zueinander bestimmt werden. Die Geschichte des philosophischen Denkens hat erwiesen, daß es hierbei nur zwei Lösungsmöglichkeiten gibt: Entweder wird die Materie für das Primäre erklärt oder das Bewußtsein. Dergestalt sind in der ganzen Geschichte der Philosophie auch nur zwei selbständige philosophische Grundrichtungen, der Materialismus und der Idealismus, entstanden. Der Dualismus, der von der Annahme ausgeht, daß Materie und Bewußtsein zwei selbständige und voneinander unabhängige Substanzen sind, scheiterte an der Unmöglichkeit, die Übereinstimmung des Bewußtseins mit der Materie, die sich in der Erkenntnis der materiellen Welt durch den Menschen sowie in seiner praktischen Tätigkeit zeigt, zu erklären. Er mußte zur Erklärung dieser Tatsache zu Fiktionen Zuflucht nehmen.
2. Bereits[26] der vormarxistische Materialismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen hat die Grundfrage der Philosophie im Rahmen seiner theoretischen Möglichkeiten grundsätzlich richtig beantwortet und wesentliche Elemente einer umfassenden wissenschaftlichen Lösung entwickelt. Das gilt besonders von den englischen und französischen Materialisten sowie von Feuerbach. Sie erklärten die Materie für das Primäre, das Bewußtsein für ein Produkt des menschlichen Körpers und seinem Inhalt nach für eine Widerspiegelung der materiellen Welt. Aber sie hatten sehr vereinfachte mechanische Anschauungen von der Natur des Bewußtseins sowie von seiner Funktion und waren, dem damaligen Entwicklungsstand[27] der Naturwissenschaft entsprechend, nicht in der Lage, seine besondere Qualität zu erkennen.
Wie jeder Materialismus geht auch der dialektische und historische Materialismus vom Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein aus, doch im Unterschied zum früheren Materialismus beschränkt er sich nicht auf diese Feststellung, sondern gibt eine dialektische Charakteristik des Wechselverhältnisses[28] von Materie und Bewußtsein:
1) Die Materie existiert vor dem Bewußtsein, denn sie ist ewig, absolut und unendlich; das Bewußtsein aber entsteht erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Materie, seine Existenz hängt von bestimmten Bedingungen ab, daher[29] ist es vergänglich, bedingt und endlich.
2) Das Bewußtsein ist ein Produkt der Materie, denn es entsteht als besondere Eigenschaft der Materie auf der Grundlage bestimmter Funktionen hochorganisierter Materie, nämlich des Zentralnervensystems des Menschen, insbesondere des Gehirns.
3) Die qualitativ neue Eigenschaft des Bewußtseins besteht in der Fähigkeit, die materielle Welt in ideellen Formen widerzuspiegeln; das Bewußtsein besitzt daher keinen selbständigen Inhalt, sondern ist sowohl seinen konkreten Inhalten (Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken) als auch den allgemeinen Formen nach, in denen diese Bewußtseinsinhalte auftreten (Formen und Gesetze der Sinneserkenntnis sowie Formen und Gesetze des Denkens), letzten Endes eine Widerspiegelung der materiellen Welt.
4) Das Bewußtsein ist nicht passiver Reflex, sondern aktive geistige Aneignung der materiellen Welt. Es besitzt ein relative Selbständigkeit, die sich in einer relativen Eigengesetzlichkeit, in einem relativen (funktionellen) Apriorismus der Denkformen und -gesetze sowie in der Fähigkeit der aktiven Rückwirkung auf die materielle Welt äußert. Dank seiner relativen Selbständigkeit kann das Bewußtsein von erkannten Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaft ausgehend, dem praktischen Handeln Ziele setzen und so zu einem mächtigen Instrument zur Veränderung der Welt werden.
3. Die idealistische Lösung der Grundfrage der Philosophie geht in allen ihren Varianten vom Primat des Bewußtseins gegenüber der Materie aus.
Der objektive Idealismus beruht auf einer Lösung der Grundfrage der Philosophie, bei der das Denken als Ganzes oder aber bestimmte Denkformen verabsolutiert werden. Im objektiven Idealismus Platons werden die Begriffe zu einer selbständigen Ideenwelt ausgeweitet, die ewig und unveränderlich existieren soll, während die Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt als vergängliche und unvollkommene Nachbildungen dieser Ideen betrachtet werden.
Während der objektive Idealismus das menschliche Bewußtsein vom Subjekt trennt und in eine selbständige objektive Wesenheit verwandelt, geht der subjektive Idealismus direkt vom menschlichen Bewußtsein aus und gelangt meist durch eine Verabsolutierung der sinnlichen Erkenntnis, insbesondere der Empfindung, dahin[30], die materielle Welt für Bewußtseinsinhalte, für Empfindungskomplexe zu erklären.
Die Beantwortung der Grundfrage der Philosophie kann nur zum Materialismus oder zum Idealismus führen, wobei der Unterschied zwischen objektivem und subjektivem Idealismus zwar nicht unwichtig, aber im Hinblick[31] auf den Gegensatz des Idealismus zum Materialismus doch zweitrangig ist. Eine dritte Grundrichtung der Philosophie, die weder Materialismus noch Idealismus ist, kann es nicht geben, weil die Grundfrage der Philosophie kein Drittes oder gar noch weitere Alternativen zuläßt, wie neuerdings von der bürgerlichen Philosophie behauptet wird.
4. Eine philosophische Strömung, die den Anspruch erhebt, weder Materialismus noch Idealismus zu sein, ist in der Gegenwart der thomistische Realismus. Er wendet sich sowohl gegen den Materialismus als auch gegen den subjektiven Idealismus und behauptet, eine Sonderstellung einzunehmen. Tatsächlich ist der thomistische Realismus eine komplizierte Abart des objektiven Idealismus. Nach seiner Auffassung existiert die materielle Welt zwar unabhängig vom menschlichen Bewußtsein, jedoch keineswegs unabhängig vom göttlichen Geist.
Die richtige wissenschaftliche Beantwortung der Grundfrage der Philosophie ist von entscheidender Bedeutung für die Lösung der anderen philosophischen Probleme. Aber sie ist nicht nur eine theoretische Angelegenheit der Philosophie, sie ist von großer Bedeutung für alle anderen Wissenschaften und auch für das praktische Leben, insbesondere für die Politik. Die Wissenschaften werden, wenn sie von der dialektisch-materialistischen Lösung der Grundfrage der Philosophie ausgehen, darauf orientiert, die in den mannigfaltigen Entwicklungsformen existierende objektive Realität zu erforschen und in den Begriffen, Gesetzen und Theorien der Wissenschaft angenäherte Abbilder der objektiven Realität zu sehen. In der praktischen Politik darf man dementsprechend nicht von ewigen Prinzipien oder subjektiven Wünschen ausgehen, sondern von den realen Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens, vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, vom Verhältnis der Klassenkräfte, von objektiven Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft.
Übungen
I. Sprechen Sie die folgenden Ausdrücke richtig aus:
grundsätzlich; die Materie; gegenüberstellen; die Kategorie; die Unmöglichkeit; die Widerspiegelung; die Annahme; die Qualität; unendlich vergänglich; die Rückwirkung; verabsolutieren; erheben; die Abart; ewig.
II. Lesen Sie und übersetzen Sie den Text ins Russische.
III. Nennen Sie entsprechende russische Ausdrücke:
1. das Verhältnis von Materie und Bewußtsein; die Grundfrage der Philosophie; die grundsätzliche Lösung; von der Lösung abhängen; explizit; einen Begriff definieren; im Rahmen der Grundfrage; Materie und Bewußtsein gegenüberstellen; eine philosophische Kategorie; für das Primäre erklären; von der Annahme ausgehen; die Substanz; an der Unmöglichkeit scheitern;
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der subjektive Idealismus gelangt … dahin … – субъективный идеализм приходит к тому, что …