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Ihr Gesicht zog sich plötzlich zusammen, und ihre Augenlider zuckten schnell — sie wandte sich von mir ab und blickte zu Boden, damit ich ihren Schmerz nicht sähe. Sie sammelte wie wild Papier auf und murmelte schließlich nach mehrmaligem Schniefen undeutlich:»Hier ist sein Terminkalender vom Schreibtisch «und dann langsamer:»Das ist ja merkwürdig.«

«Was ist merkwürdig?«

«Der Oktober fehlt.«

Sie erhob sich und brachte mir den Kalender, einen von diesen rechteckigen Terminkalendern, bei denen sich jeweils eine ganze Woche überblicken läßt. Der Monat, der gerade aufgeschlagen war, war der November, und in den Spalten einiger Tage fanden sich auch Eintragungen, die meisten aber waren leer. Ich blätterte zurück und befand mich im September.

«Ich nehme an, der Oktober liegt noch irgendwo da am Boden, ist rausgerissen worden«, sagte ich.

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf — und konnte den Monat dann tatsächlich nicht finden.

«Ist sein Adreßbüchlein wieder aufgetaucht?«fragte ich.

«Nein. «Sie war verwirrt.»Ist es nicht.«

«Fehlt sonst noch was?«

«Ich bin mir nicht sicher.«

Es schien höchst absonderlich, daß da jemand das Risiko auf sich genommen haben sollte, über das Dach in diese Geschäftsräume einzubrechen, nur um ein Adreßbüchlein und ein paar Seiten aus einem Terminkalender zu klauen. Da mußte noch mehr fehlen.

In diesem Augenblick erschienen die Glaser aus den Gelben Seiten und setzten meinen Spekulationen ein Ende. Ich ging mit ihnen zum Versand und erblickte nun das Loch, das fachgerecht in die zwei mal anderthalb Meter große Scheibe geschlagen worden war. Die Glasscherben, die über den ganzen Raum verteilt gewesen sein mußten, waren aufgelesen und zu einem Haufen dolchscharfer, glitzernder Dreiecke zusammengetragen worden. Eine kühle kleine Brise raschelte in Papieren, die in einem Klemmbrett steckten.

«Glas von dieser Qualität bricht nicht, wenn man nur mal eben mit dem Fingernagel dagegenpocht«, sagte einer der Glaser fachkundig und nahm eine Scherbe auf.»Sie müssen irgendein Gewicht gehabt haben, das sie dagegensausen ließen, so was wie eine Abrißbirne.«

Kapitel 3

Während die Arbeiter der Glaserei den Fensterrahmen ausmaßen, sah ich dem ältesten von Grevilles Angestellten dabei zu, wie er durchsichtige Tüten mit Perlen aus einer Pappschachtel nahm, sie in gefütterte Umschläge tat und diese in einen Karton stapelte. Als alles drin war, legte er einen Lieferschein obenauf, schloß den Deckel und klebte den Karton dann mit verstärktem Klebeband zu.

«Wo kommen diese Perlen her?«fragte ich.

«Taiwan, würde ich sagen«, meinte er kurz und versah das Paket mit einem großen Adressenaufkleber.

«Nein… ich meinte, wo die hier aufbewahrt werden.«

Er sah mich mit mitleidsvollem Erstaunen an — diese weißhaarige, großväterliche Gestalt, die in einem braunen Overall steckte, wie ihn Lagerarbeiter tragen.»Im Lagerraum natürlich.«

«Natürlich.«

«Hinten am Gang«, sagte er.

Ich kehrte in Grevilles Büro zurück und fragte Annette im Interesse guter Public Relations, ob sie mir den Lagerraum zeigen könne. Ihr eher düsteres Gesicht erstrahlte vor Freude, und sie führte mich zum äußersten Ende des Flures.

«Hier sind sie«, sagte sie mit unverkennbarem Stolz und trat durch eine Mitteltür in einen kleinen, inneren Flur.

«Es sind nämlich vier Räume«, erklärte sie und zeigte auf offene Türen.»Da drin sind die Cabochons, die geschliffenen, aber nicht facettierten Steine, oval und rund, dort die Perlen, dort seltene Stücke und dort organische Materialien.«

«Was sind organische Materialien?«fragte ich.

Sie führte mich in den entsprechenden Raum, dessen Wände mit schmalen, vom Boden bis in Schulterhöhe reichenden grauen Blechschränken vollgestellt waren. Die einzelnen Schubladen hatten etwa die Größe von Schuhkartons, und auf allen war über dem Griff ein Etikett angebracht, das Auskunft über den jeweiligen Inhalt gab.

«Organische Materialien sind die, die gewachsen sind«, sagte Annette geduldig, und es ging mir durch den Kopf, daß ich da vielleicht selber hätte drauf kommen sollen.»Zum Beispiel Korallen. «Sie zog eines der in ihrer Reichweite befindlichen Schubfächer auf, das sich als zwar schmal, aber sehr tief erwies, und zeigte mir seinen Inhalt — durchsichtige Plastiktüten, alle gefüllt mit unzähligen hellroten Zweiglein.»Italienisch«, sagte sie.»Die besten Korallen kommen aus dem Mittelmeer. «Sie schloß das Schubfach wieder, ging etwas weiter und zog ein anderes auf.»Abalone, also eine Meeresschnecke. «Ein weiteres:»Elfenbein. Wir haben noch ein bißchen was davon, können es augenblicklich aber nicht verkaufen. «Noch ein anderes:»Perlmutt. Das verkaufen wir tonnenweise. «Dann» Rosa Flußmuscheln«,»Süßwasserperlen«,»Kunstperlen, die Zuchtperlen sind im Tresorraum.«

Alles schien in Dutzenden von Größen und Formen vorhanden zu sein. Annette lächelte über meinen verwirrten Gesichtsausdruck und bat mich, ihr in den Nebenraum zu folgen.

Auch hier vom Boden bis in Schulterhöhe reichende Metallschränke, hier aber nicht nur an den Wänden, sondern auch im Raum, mit Gängen dazwischen, wie Regale in einem Supermarkt.

«Cabochons, für Ringe und so etwas«, sagte Annette.»In alphabetischer Reihenfolge.«

Von Amethyst bis Türkis — über Granat, Jade, Lapislazuli und Onyx, dazu mehr als ein Dutzend weitere, von denen ich noch nie gehört hatte.»Halbedelsteine«, sagte Annette kurz.»Alles echte Steine. Mr. Franklin rührt Glas und Kunststoff nicht an. «Sie verstummte abrupt, ließ fünf Sekunden verstreichen.»Er faßte so etwas nicht an«, sagte sie dann matt.

Seine Gegenwart war noch stark spürbar, dachte ich. Es war einem fast so, als würde er gleich energiegeladen durch die Tür da hereinkommen und» Hallo Derek, was führt dich denn hierher?«sagen — und wenn er schon mir noch lebendig erschien, der ich ihn doch tot gesehen hatte, um wieviel stärker körperlich präsent mußte er dann für Annette und June noch sein!

Und auch für Lily, wie ich vermutete. Lily war im dritten Lagerraum damit beschäftigt, einen braunen Pappkarton auf so etwas wie einem Teewagen umherzurollen, Tüten voller Kügelchen aus den Schubladen zu sammeln und anhand einer Liste zu überprüfen. Mit ihrem in der Mitte geteilten und im Nacken in einer Spange wieder zusammengeführten Haar, ihrem schmalen, blassen Mund und den runden Backen sah Lily aus wie eine Gouvernante bei Charlotte Bronte, und ihre Kleidung erweckte den Eindruck, als sei Selbstaufopferung ihr höchstes Ziel. Der Typ, der den Meister schweigend verehrt, dachte ich und fragte mich, was sie wohl für Greville empfunden haben mochte.

Was das auch immer gewesen war — Lily ließ sich nichts anmerken. Sie hob die gesenkten Augen nur zu einem kurzen Blick in mein Gesicht und erklärte mir, von Annette dazu aufgefordert, daß sie gerade dabei sei, für einen der größten Schmuckhersteller des Landes eine Sendung von Jaspis, Rhodonit, Aventurin und Tigerauge zusammenzustellen.

«Wir importieren diese Steine«, sagte Annette.»Wir sind Großhändler und verkaufen an etwa dreitausend Juweliere, vielleicht noch mehr. Ein paar der ganz großen, viele kleine. Wir sind auf dem Gebiet der Schmucksteine die Nummer eins. Sehr angesehen. «Sie schluckte.»Die Leute vertrauen uns.«

Greville war, das wußte ich, in der ganzen Welt herumgereist, um Steine zu kaufen. Wenn wir uns getroffen hatten, war er oft im Aufbruch nach Arizona oder Hongkong gewesen oder soeben erst aus Israel zurückgekehrt, aber er hatte mir nie mehr als die Reiseziele verraten. Jetzt war mir klar, was er gemacht hatte — und auch, daß er nicht so leicht zu ersetzen sein würde.

Einigermaßen deprimiert kehrte ich in sein Büro zurück und rief seinen Steuerberater und seine Bank an.