Danach streckte ich mein mit Eisbeuteln versehenes Bein auf dem Sofa aus und rief den Mann in Newmarket an, der Grevilles zwei Rennpferde trainierte.
Er hob den Hörer so schnell ab, als habe er nur auf das Klingeln des Telefons gewartet.
«Ja?«sagte er.»Was bieten Sie?«
«Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.»Spreche ich mit Nicholas Loder?«
«Was? Wer sind Sie?«Er war barsch und ungeduldig, überlegte es sich dann aber wohl noch einmal und sagte mit ein wenig mehr Honigsüße:»Verzeihung, ich habe jemand anderes erwartet. Ich bin Loder, ja, und mit wem spreche ich?«
«Mit Greville Franklins Bruder.«
«Ach ja?«
Ihm sagte das nicht sofort etwas. Ich stellte ihn mir vor, soweit das möglich war, da ich ihn nur vom Sehen und nicht persönlich kannte — ein großer Mann in den Vierzigern mit schütterem Haar und einer enormen Selbstsicherheit und Ausstrahlung. Zweifellos ein guter bis hervorragender Trainer, bei Fernsehinterviews aber dem Interviewpartner gegenüber anmaßend und herablassend, was er auch, wie ich gehört hatte, den Besitzern gegenüber sein konnte. Greville hatte seine Pferde bei ihm, weil sein erstes Pferd, das er seinerzeit als Schuldenrückzahlung übernommen hatte, in Loders Stall gestanden hatte. Nicholas Loder hatte dann das zweite für Greville gekauft und war bemerkenswert erfolgreich mit beiden gewesen. Greville hatte mir mal gesagt, daß er telefonisch sehr gut mit Loder zurechtkäme und daß dieser ein durch und durch herzensguter Mensch sei.
Bei unserem letzten Telefonat hatte Greville davon gesprochen, daß er noch einen weiteren Zweijährigen zu kaufen beabsichtige und daß ihm Loder vielleicht einen bei der Auktion in Oxford besorgen werde.
Ich erklärte Loder nun, daß Greville tot sei, und nach den ersten mitfühlenden Bekundungen der Betroffenheit reagierte er genau so, wie ich es erwartet hatte — nämlich nicht, als habe er einen guten Freund verloren, sondern ganz und gar geschäftsmäßig.
«Das hat keine Auswirkungen auf den Einsatz der Pferde«, sagte er.»Sie sind ja sowieso Eigentum der Firma Saxony Franklin und nicht etwa Grevilles. Ich kann also die Pferde auch weiterhin im Namen der Firma laufen las-sen. Dazu bin ich nämlich von ihr autorisiert. Da sollte es also keine Probleme geben.«
«Es tut mir leid, aber vielleicht doch…«, hob ich an.
«Nein, nein. >Dozen Roses< läuft am Samstag in York. Hat dort gute Chancen. Ich habe das Greville erst vor ein paar Tagen mitgeteilt. Er wollte immer wissen, wann sie wo laufen, obwohl er nie gekommen ist, um sie sich anzuschauen.«
«Das Problem«, sagte ich,»liegt darin, daß ich sein Bruder bin. Er hat mir die Saxony Franklin Ltd. vermacht.«
Ganz plötzlich und mit aller Macht eröffnete sich ihm der volle Umfang des Problems.»Sie sind doch nicht etwa sein Bruder Derek Franklin. Dieser Bruder? Der Jockey?«
«Doch. Deshalb… könnten Sie bitte mal bei Weatherby nachfragen, ob die Pferde auch laufen dürfen, solange die gerichtliche Bestätigung des Testaments noch nicht vorliegt?«
«Mein Gott«, sagte er schwach.
Berufsjockeys war es, wie wir beide wohl wußten, nicht gestattet, eigene Pferde in ein Rennen zu schicken. Ihnen durften alle möglichen Gäule gehören, so etwa Zuchtstuten, Fohlen, Deckhengste, Kutschpferde, Jagdpferde, Springpferde und was sonst noch auf Hufen herumlief, sogar Rennpferde, solange sie diese nicht an Rennen teilnehmen ließen.
«Könnten Sie das mal herausfinden?«fragte ich noch einmal.
«Das werde ich. «Er klang verärgert.»>Dozen Roses< sollte am Samstag an den Start gehen.«
>Dozen Roses< war im Augenblick das bessere von Grevilles beiden Pferden, deren Geschick ich regelmäßig in der Zeitung und im Fernsehen verfolgt hatte. Als Dreijähriger ein dreifacher Sieger, war er mit vier Jahren eine Enttäuschung gewesen, aber in der laufenden Saison hatte er, nun fünfjährig, zu seiner alten Form zurückgefunden und in den vergangenen paar Wochen dreimal Siege verbuchen können. Einen entsprechend starken Auftritt am Samstag zu erwarten, erschien nicht ganz unberechtigt.
Loder sagte:»Wenn Weatherby das Pferd aus dem Rennen wirft, würden Sie’s dann verkaufen wollen? Ich könnte unter meinen Besitzern noch am Samstag einen Käufer finden.«
Ich hörte das Drängen in seiner Stimme und fragte mich, ob >Dozen Roses< vielleicht mehr war als nur ein Pferd unter anderen am Start, ein Pferd wie die vielen, vielen anderen, die er Saison für Saison laufen ließ. Er klang jedenfalls viel aufgeregter, als mir normal erscheinen wollte.
«Ich weiß nicht, ob ich vor der gerichtlichen Freigabe des Erbes verkaufen darf«, sagte ich.»Sie gehen auch dieser Frage am besten gleich mal nach.«
«Aber wenn ja, würden Sie’s dann tun?«
«Ich weiß es nicht«, sagte ich verwirrt.»Lassen Sie uns doch abwarten und erst mal sehen, wie die Dinge liegen.«
«Sie werden ihn nicht halten können, das wissen Sie«, sagte er eindringlich.»Er hat eine weitere Saison in sich, ist immer noch ganz schön was wert. Wenn Sie jedoch Ihre Lizenz nicht zurückgeben, oder so was, können Sie ihn nicht laufen lassen. Allerdings ist er eine Rückgabe der Lizenz nun auch wieder nicht wert. Ist ja nicht so, daß er ein Derby-Favorit wäre.«
«Ich werde im Laufe dieser Woche eine Entscheidung treffen.«
«Aber Sie denken doch nicht daran, Ihre Lizenz zurückzugeben, oder?«Jetzt klang er fast schon erschrocken.»Hab ich nicht so was in der Zeitung gelesen, daß Sie zwar verletzt sind, aber doch hoffen, noch vor Weihnachten wieder Rennen reiten zu können?«
«Das war zu lesen, ja.«
«Na bitte. «Die Erleichterung war so wenig definierbar wie seine Angst, kam aber doch klar rüber. Verstehen konnte ich beides nicht. Er hätte nicht so besorgt sein sollen.
«Vielleicht könnte Saxony Franklin das Pferd ja jemandem auf Leasingbasis überlassen«, sagte ich.
«Oh. Hm, vielleicht mir?«Es hörte sich an, als sei dies die perfekte Lösung.
«Ich weiß nicht«, sagte ich vorsichtig.»Wir müssen das klären.«
Mir wurde bewußt, daß ich ihm nicht voll vertraute — und diese Zweifel waren keineswegs schon vor unserem Telefongespräch dagewesen. Er gehörte zu den fünf besten Flachbahn-Trainern des Landes und galt auf Grund seines bombensicheren Erfolges ganz automatisch als zuverlässig.
«Wenn Greville gelegentlich erschien, um sich seine Pferde anzusehen, hat er da irgendwann mal jemanden mitgebracht?«fragte ich.»Ich versuche, die Menschen ausfindig zu machen, die ihn kannten, um ihnen von seinem Tod Nachricht zu geben.«
«Er ist nie hiergewesen, um sich die Pferde anzuschauen. Ich selbst kannte ihn kaum persönlich, telefonierte meistens mit ihm.«
«Nun, seine Bestattung ist am Freitag in Ipswich«, sagte ich.
«Wie wäre es, wenn ich an dem Tag mal in Newmarket vorbeikäme? Es liegt am Weg, und wir könnten uns treffen; ich könnte mir die Pferde ansehen und fertigmachen, was immer an Papieren erforderlich sein sollte.«
«Nein«, sagte er. Und dann, seine Antwort abmildernd:»Ich hindere Besitzer stets an Besuchen. Sie bringen nur die Stallroutine durcheinander. Ich kann da keine Ausnahmen machen. Wenn ich irgendwelche Unterschriften von Ihnen brauchen sollte, dann werde ich das auf andere Weise arrangieren.«
«Schön«, stimmte ich milde zu, trieb ihn nicht in die Enge.»Ich werde auf Nachricht von Ihnen warten, wie Weatherby entschieden hat.«
Er sagte, er werde sich mit mir in Verbindung setzen und legte ganz abrupt auf, mich mit dem Gedanken alleinlassend, daß ich, was sein Verhalten betraf, die Fragen nicht kannte, von den Antworten ganz zu schweigen.