Brad fand das St. Catherine’s Hospital ohne größere Schwierigkeiten, half mir am Eingang aus dem Wagen und reichte mir die Krücken. Er sagte, er werde das Auto auf den Parkplatz bringen und dann in der Eingangshalle auf mich warten — ich solle mir nur Zeit lassen. Auch am Vortag hatte er schon stundenlang auf mich gewartet und dabei weder Ungeduld noch Mitgefühl erkennen lassen. Er war lediglich auf eine ruhige und neutrale Weise verdrießlich gewesen.
Die Intensivstation erwies sich als streng bewacht von energischen Krankenschwestern, die einen Blick auf meine Krücken warfen und mir dann erklärten, daß ich in der falschen Abteilung gelandet sei. Als ich ihnen jedoch endlich beigebracht hatte, wer ich war, statteten sie mich teilnahmsvoll mit Mundschutz und Kittel aus und ließen mich dann zu Greville hinein.
Irgendwie hatte ich erwartet, daß Intensivstation gleichbedeutend sei mit hellen Lampen und geräuschvoller Geschäftigkeit, sah aber nun, daß dem nicht so war, jedenfalls nicht auf dieser Station in diesem Krankenhaus. Das Licht war gedämpft, die Atmosphäre friedlich, der Geräuschpegel — sobald sich mein Gehör darauf eingestellt hatte — ein wenig über der absoluten Stille, aber noch nicht so weit darüber, daß ich einzelne Laute hätte identifizieren können.
Greville lag auf einem hohen Bett ganz allein in einem Raum, der voller Drähte und Schläuche war. Abgesehen von einem schmalen Leinentuch, das lose über seinen Lenden lag, war er völlig nackt und sein Schädel zur Hälfte kahlgeschoren. Weitere Spuren chirurgischer Eingriffe zogen sich wie die eines Tausendfüßlers quer über seinen Unterleib und eine Hüfte hinab, und er hatte am ganzen Körper Blutergüsse.
Hinter seinem Bett zeigten eine Reihe von Bildschirmen ihre leeren, viereckigen Gesichter — die Apparate waren nicht eingeschaltet, da die Informationen der Elektroden zu anderen, in einem Nebenraum stehenden Geräten weitergeleitet wurden. Der Patient brauche, so sagte man mir, nicht ständig einen Pfleger in seiner Nähe zu haben, da man seine Reaktionen permanent von diesem Nebenraum aus überwache.
Greville war ohne Bewußtsein, sein Gesicht blaß und still, sein Kopf ein wenig zur Tür hin geneigt, als erwarte er den Eintritt von Besuchern. Ein der Druckverminderung dienender Eingriff hatte auf seinem Schädel eine Wunde hinterlassen, die mit einem dick gepolsterten Schutzverband abgedeckt worden war, der eher wie ein seinen Kopf stützendes Kissen aussah.
Greville Saxony Franklin, mein Bruder. Neunzehn Jahre älter als ich — keine Überlebenschance. Dem hatte man sich zu stellen. Das galt es zu akzeptieren.
«Hi, Guy«, sagte ich.
Es war dies eine amerikanische Begrüßungsformel, die er selbst häufig benutzte, aber sie fand keine Erwiderung. Ich berührte seine Hand, die sich warm und entspannt anfühlte und deren Fingernägel wie immer sauber und gepflegt waren. Herz und Kreislauf funktionierten noch, angeregt von elektrischen Impulsen. Durch einen Schlauch an seinem Hals wurde Luft in seine Lungen gepumpt und wieder abgesaugt. Im Inneren seines Kopfes stellten die Nervenknoten ihre Tätigkeit ein. Wo war wohl seine Seele, fragte ich mich — wo der vernunftbegabte, ausdauernde, starke Geist? Wußte er, daß er im Sterben lag?
Ich mochte ihn nicht einfach sich selbst überlassen. Niemand sollte einsam sterben müssen. Ich ging hinaus und sagte das.
Ein Arzt in einem grünen Kittel erklärte mir, daß sie, wenn die gesamte noch feststellbare Gehirntätigkeit aufgehört habe, meine Zustimmung einholen würden, bevor sie die Geräte abschalteten. Wenn ich es wünsche, dürfe ich selbstverständlich in diesem kritischen Augenblick, aber auch schon vorher, bei meinem Bruder sein.»Aber der Tod«, sagte er dann streng,»wird in seinem Falle ein sich unendlich lang hinziehender Prozeß und kein eindeutig bestimmbarer Augenblick sein. «Er machte eine Pause.»Auf dem Flur hier befindet sich ein Warteraum, wo es unter anderem auch Kaffee gibt.«
Banales und Dramatisches, dachte ich — sein Alltag. Ich hinkte den langen Weg zum Empfang zurück, fand dort
Brad, informierte ihn über den Stand der Dinge und sagte ihm, daß ich wohl noch ziemlich lange hierbleiben würde, vielleicht sogar die ganze Nacht.
Er machte eine zustimmende Handbewegung. Er werde da sein, sagte er, oder an der Pforte eine Nachricht hinterlassen. In jedem Falle bliebe er erreichbar für mich. Ich nickte und ging wieder nach oben, wo ich den Warteraum bereits von einem sehr jungen, gramverzehrten Paar besetzt fand, dessen Baby nur noch mit Fäden am Leben hing, die kaum stärker waren als die von Greville.
Der Raum war hell, komfortabel eingerichtet und unpersönlich. Ich lauschte dem langsamen Schluchzen der Mutter und dachte an all das Elend, das Tag für Tag in diese Wände hineinsickerte. Das Leben hatte schon so seine ganz eigene Art, einen wie einen Fußball vor sich herzustoßen. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. Das Schicksal hatte es mir nie leichtgemacht, aber das war in Ordnung so, das war ganz normal. Die Mehrzahl der Menschen, so schien mir, waren irgendwann einmal dran und wurden zum Fußball. Die meisten überlebten das. Einige nicht.
Greville war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Den spärlichen Informationen, über die man im Krankenhaus verfügte, hatte ich entnommen, daß er die High Street von Ipswich entlanggegangen war, als Teile eines Baugerüstes, das gerade abmontiert wurde, aus großer Höhe auf ihn herabgestürzt waren. Einer der Bauarbeiter war getötet, ein anderer mit gebrochener Hüfte ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Was meinen Bruder anbetraf, so hatte man mich mit den klinischen Details vertraut gemacht. Eine Metallstange hatte seinen Bauch durchbohrt, eine andere war in sein Bein eingedrungen. Etwas Schweres war ihm auf den Kopf gefallen, was zu erheblichen Verletzungen des Gehirns mit entsprechenden inneren Blutungen geführt hatte. Das Unglück war am späten Nachmittag des gestrigen Tages passiert, er lag seitdem in tiefer Ohnmacht und hatte erst identifiziert werden können, als Arbeiter, die am heutigen Morgen die Trümmer beiseite räumten, seinen Taschenkalender gefunden und der Polizei übergeben hatten.
«Brieftasche?«fragte ich.
Nein, keine Brieftasche. Nur der Taschenkalender, dessen erste Seite ordentlich ausgefüllt worden war — nächster Angehöriger: Derek Franklin, Bruder; dazu die Telefonnummer. Zuvor hatten sie über keinerlei Hinweise verfügt, sah man einmal von den Initialen G. S. F. ab, die oben auf der Brusttasche seines zerrissenen und blutbefleckten Hemdes eingestickt waren.
«Ein Seidenhemd«, hatte die Schwester mißbilligend hinzugefügt, als ob mit Monogramm bestickte Seidenhemden irgendwie etwas Unmoralisches seien.
«Nichts in seinen Taschen?«fragte ich.
«Ein Schlüsselbund und ein Taschentuch. Das war alles. Man wird Ihnen diese Sachen natürlich zusammen mit dem Kalender, seiner Uhr und seinem Siegelring aushändigen.«
Ich nickte. Es war nicht nötig zu fragen, wann.
Der Nachmittag zog sich hin, fremd und unwirklich, ein unendlich gedehntes Übergangsstadium. Ich ging wieder zu Greville hinein, um eine Weile bei ihm zu sein, aber er lag bewegungs- und wahrnehmungslos in seinem dahinschwindenden Dämmerlicht, in kaum merklicher Weise schon nicht mehr er selbst. Wenn Wordsworth recht hatte mit dem, was er über die Unsterblichkeit gesagt hat, so war das Leben Schlaf und Vergessen, der Tod aber ein Wiedererwachen — vielleicht sollte ich um Greville da nicht trauern, sondern mich eher für ihn freuen.
Ich dachte an ihn, wie er einmal gewesen war, und an unser Leben als Brüder.
Wir hatten nie zusammen in einem Familienverband gelebt, denn als ich geboren wurde, studierte er schon und baute sich eine eigene Existenz auf. Als ich sechs war, heiratete er, als ich zehn wurde, ließ er sich scheiden. Jahrelang war er für mich nicht viel mehr als ein Halbfremder, den ich zumeist nur kurz bei Familienzusammenkünften traf — bei Festen, die immer seltener stattfanden, weil unsere Eltern älter wurden und starben, und die ganz aufhörten, als die beiden Schwestern, die die Lücke zwischen Greville und mir füllten, auswanderten, die eine nach Australien, die andere nach Japan.